Das Lied der Luege
warten.«
Susan schmiegte sich an ihren Mann. Manchmal fragte sie sich, womit sie so viel Glück verdient hatte. Daniel und sie liebten sich wie am ersten Tag, Jimmy hatte eine bezaubernde Frau und einen gesunden, kräftigen Sohn, und ihr selbst war auch noch einmal das Glück vergönnt gewesen, Mutter zu werden. Als der Arzt feststellte, dass sie Zwillinge erwartete, war Susan erschrocken und hatte sich gefragt, ob sie mit dieser Doppelbelastung fertig werden würde. Eine Minute nach deren Geburt hätte sie jedoch keinen von beiden missen wollen. Sie hatte die Kinder nach den Menschen genannt, die sie niemals vergessen konnte – Rosalind und Stephen. Stephen Polkinghorn war seit so vielen Jahren schon tot, und auch Rosalind weilte nicht mehr unter den Lebenden. Mit ihr war Susan nach ihrem Weggang aus England in regelmäßigem Briefkontakt gestanden und erschüttert gewesen, zu erfahren, dass die Freundin an Brustkrebs erkrankt war. Rosalind war vor zwei Jahren gestorben, Lavinia Callington war so aufmerksam gewesen, Susan die Todesanzeige zu schicken. Seit Rosalinds Tod bestand nun kein Kontakt mehr zu den Callingtons, so wusste sie nicht, wie es Anabell ging. Das Letzte, was sie von Rosalind erfahren hatte, war, dass Anabell kurz vor ihrer Verlobung mit einem jungen, charmanten, gutaussehenden und äußerst vermögenden Mann stand. Wahrscheinlich war Anabell heute schon verheiratet und selbst Mutter …
Rasch wischte Susan sich über das Gesicht, als könne sie damit die Gedanken an die Vergangenheit vertreiben. Obwohl Daniel mehrmals vorgeschlagen hatte, nach England zu reisen, hatte Susan das stets abgelehnt. Zuerst waren die Zwillinge zu klein für eine solch weite Reise gewesen, dann war Daniel in der Kanzlei nicht abkömmlich, da sich sein Vater nach und nach zurückzog, außerdem wusste Susan, dass es besser war, alte Wunden nicht wieder aufzureißen. Seit vier Jahren unterrichtete sie eine Laienspieltruppe in Boston, die zwei- bis dreimal im Jahr kleine Auftritte hatte. Diese ehrenamtliche Tätigkeit machte ihr sehr viel Spaß, wenngleich die Damen und Herren des Theaterkreises natürlich nicht mit richtigen Schauspielern zu vergleichen waren. Sie waren jedoch mit Fleiß und Enthusiasmus bei der Sache, aber niemand von ihnen wollte ein großer Star werden.
»Sind Jimmy und Harriet schon da?« Daniels Frage riss sie aus ihren Gedanken.
Susan blickte auf die Uhr. »Nein, sie müssen aber jeden Moment kommen. Die Kinder haben den ganzen Vormittag im Garten gespielt. Wie sie aussahen, kannst du dir ja vorstellen.« Susan schüttelte lachend den Kopf. »Ich habe sie erst mal ins Bad geschickt. Ach ja, und Daisy habe ich die nächsten Tage freigegeben. Sie freut sich, Ostern mit ihrer Familie verbringen zu können.«
Daniel nickte zustimmend und wandte sich zur Treppe.
»Dann gehe ich auch rasch ins Bad und ziehe mir ein frisches Hemd an. Ich habe mächtigen Hunger. Können wir gleich essen, wenn die Kinder kommen?«
»Die Suppe ist fertig, Daisy wird noch den Tisch decken, bevor sie geht.« Susan rief Daniel zurück, als er bereits auf der Treppe war. »Sieh doch mal bei Rosalind rein«, bat sie. »Sie zeigt sich etwas unwillig, das neue gelbe Kleid anzuziehen.«
»Ist ein richtiger Wildfang.« Daniel lachte. »Unsere Tochter wird sicher mal Lokführerin oder gar Pilotin, pass nur auf.«
Susan ging ins Esszimmer, wo Daisy gerade die Servietten verteilte. Der Tisch war schlicht, aber nett gedeckt. Heute, am Samstag, machten sie kein Aufhebens um das Essen, morgen am Feiertag würde es jedoch eine große und festlich gedeckte Tafel geben.
»Schöne Ostern, Mrs. Draycott«, verabschiedete sich Daisy wenig später und verließ das Haus durch die Hintertür. Etwa eine Minute später klingelte es an der Vordertür. Susan, in Erwartung ihres Sohnes, eilte in die Halle und riss die Tür auf.
»Harriet! Jimmy! Endlich, wie geht es Henry …«
Die Worte blieben ihr im Hals stecken, denn vor der Tür standen nicht Jimmy und ihre Schwiegertochter, sondern eine fremde junge Frau. Susan schwankte, griff haltsuchend nach dem Türrahmen. Nein, es war keine Fremde! Susan meinte, in ihr eigenes Gesicht zu blicken, wenngleich die Form des Mundes ein wenig anders war, aber die Frau sah sie aus den gleichen grauen Augen an.
»Mrs. Draycott?«, fragte sie zögernd. »Mrs. Susan Draycott?« Susan konnte nur nicken, sie war nicht fähig, ein Wort herauszubringen. »Entschuldige, dass ich einfach so vor der Tür
Weitere Kostenlose Bücher