Das Lied der Luege
Schwelle stand Edward Callington, Lady Lavinia hielt sich dicht hinter ihm. Langsam stand Susan auf, ihr Blick begegnete dem von Sir Edward, während Lavinia zu Anabell stürzte und sich über das Kind warf.
»Mama.« Anabell erwachte, und Susan sah, wie sie lächelte. »Endlich … Mama …«
Ohne ein Wort zu sagen, verließ Susan den Raum, ging die breite Treppe hinunter und durch die Halle nach draußen. Es hatte zu regnen begonnen, Susan fühlte die Nässe jedoch nicht. Die Kälte, die sich in ihrem Herzen ausbreitete, überschattete alles andere. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte.
Die Koffer waren gepackt und standen vor dem kleinen Cottage, bereit, in das Automobil verladen zu werden, das Daniel gemietet hatte. In einigen Metern Entfernung scharrte Jimmy verlegen mit der Fußspitze im Straßenstaub. Sein Freund Lewis Godrevy und drei weitere Jungs standen, die Hände in den Hosentaschen, nicht weniger hilflos herum. Keiner der Jungen wusste, was er sagen sollte. Da zog Lewis etwas aus der Hosentasche und streckte es Jimmy entgegen. Es war die Holzfigur eines Pilchards.
»Hab ich selbst geschnitzt«, murmelte Lewis. »Soll dich an Cornwall erinnern. Vielleicht denkste ja mal an mich, drüben in Amerika.«
Eine leichte Röte zog über Jimmys Wangen, als er den geschnitzten Fisch betrachtete. Am liebsten hätte er seinen Freund umarmt, aber für so etwas war er zu alt. Ein Mann umarmte keinen anderen Mann.
»Ich schreib dir«, versprach er, und Lewis grinste.
»Aber nicht zu lange Briefe mit schweren Wörtern. Du weißt, ich bin nicht gut im Lesen, und erwarte nicht, dass ich dir gleich zurückschreibe.«
Susan betrachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Jimmy hatte erstaunlich gelassen reagiert, als sie ihm gesagt hatte, sie würden mit Daniel übers Meer fahren und künftig in Amerika leben. Über die Nachricht, dass sie und Daniel verheiratet waren und er nun einen neuen Vater hatte, war Jimmy allerdings sehr erfreut gewesen.
»Du gehst aber nicht wieder in den Krieg und lässt dich auch totschießen?«, hatte er nur gefragt.
»Nein, der Krieg ist vorbei.« Daniel lachte unbekümmert. »Und ich glaube, die Menschen haben daraus gelernt, so etwas niemals wieder geschehen zu lassen.«
Daniel begann, ihr Gepäck in das Automobil zu laden. Morgen Nachmittag lief ihr Schiff von Liverpool aus, die letzte Nacht auf englischem Boden wollten sie in einem kleinen Hotel am Hafen verbringen. Die Nachbarn kamen, um sich zu verabschieden. Jana Godrevy schneuzte sich kräftig die Nase, als sie Susan umarmte und ihr alles Gute wünschte.
»Ich passe auf dein Cottage auf«, versprach sie. »Und ich werde einen guten Mieter finden. Ich schreib dir dann, ja?«
Gerade als Daniel zum Einsteigen drängte, sah Susan Rosalind die Straße heraufkommen. Sie war außer Atem, und an ihrer Hand hielt sie Anabell.
»Oh, ich komme noch rechtzeitig«, rief Rosalind. »Es tut mir leid, aber Anabell ist noch nicht so kräftig, wir mussten die Kutsche nehmen, und die Wege waren durch den Regen aufgeweicht.«
Susans Blick hing an ihrer Tochter. Sie hatte die Spanische Grippe überwunden, brauchte aber noch einige Wochen, um wieder völlig gesund und kräftig zu werden. Anabells Gesicht war schmal geworden, ihre Augen noch dunkel umschattet, aber sie lächelte Susan herzlich zu.
»Tante Rosalind wollte ohne mich fahren«, sagte sie zu Susan. »Ich wollte dir aber auch auf Wiedersehen sagen.«
Susan umarmte Anabell und versuchte, das Mädchen nicht spüren zu lassen, wie sie am ganzen Körper zitterte.
»Ich freue mich, dich … euch noch mal zu sehen.« Sie blickte zu Rosalind und sagte leise: »Pass bitte auf Anabell auf.«
»Natürlich, sie ist doch Lavinias und mein Augapfel. Ich bin so froh, dass sich mein Bruder hat überzeugen lassen, Anabell nicht in die Schweiz zu schicken. In England gibt es auch gute Schulen. Sobald Anabell wieder ganz gesund ist, wird sie in ein gutes Internat in der Nähe von Barnstable, oben in Devon, gehen. Dann kann sie während der Ferien nach Hause kommen. Lavinia hätte es nach dieser Krankheit ohnehin nicht zugelassen, dass man ihre Tochter ins Ausland schickt.«
»Das freut mich für deine Schwägerin«, sagte Susan leise. »Und natürlich für Anabell. Sie liebt ihre Mutter sehr.«
Rosalind nickte, trat näher und flüsterte, so dass es nur Susan hören konnte: »Als Anabell so krank war und wir befürchteten, dass sie stirbt, hat sie immer nach ihrer Mutter gerufen. Obwohl
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