Das Lied der roten Erde (German Edition)
Diesmal hatte man ihn nicht geschlagen, aber er trug erneut Ketten. Die geballten Fäuste auf seinem Rücken verrieten seine innere Anspannung. Er drehte sich um, suchte Moira. Als ihre Blicke sich trafen, huschte ein kurzes Lächeln über sein Gesicht, und seine verkrampften Finger lösten sich.
Die Anklagen waren schwerwiegend, ganz wie es Major Penrith, der zu Moiras Erleichterung nicht zur Verhandlung erschienen war, gesagt hatte. Dem gegenüber standen die Aussagen der Zeugen, darunter Mary, das Kindermädchen der kleinen Elizabeth, sowie Ihre Exzellenz, Mrs Anna King. Die Frau des Gouverneurs hatte ausgesagt, vom Fenster des Kinderzimmers aus mit angesehen zu haben, wie Samuel Fitzgerald den Soldaten getötet hatte. Nicht Duncan.
Der Richter hielt ein Blatt in der Hand und blickte in die Runde. »Im Namen Seiner Majestät König George III. ergeht folgender Urteilsspruch: Der Angeklagte wird vom Vorwurf des Mordes an dem Gefreiten Spencer freigesprochen.«
Von Moiras Herz löste sich ein riesiger Brocken. Die abgrundtiefe Erleichterung ließ sie fast zusammensinken, sie schwankte leicht. Wentworth fasste ihren Arm.
»Zum zweiten Anklagepunkt.« Richter Chamberlain griff nach einem weiteren Blatt. »Der Vorwurf der Rebellion und der Flucht aus dem Straflager von Toongabbie wird umgewandelt in den Vorwurf des unerlaubten Entfernens von der Arbeit.«
Moira atmete auf. Die englische Strafgesetzgebung machte es möglich, dass manche Vergehen, die normalerweise die Todesstrafe nach sich zogen, von einem gnädigen Richter zu einem weniger schweren Vergehen abgemildert werden konnten. Zumindest hatte Wentworth ihr das so erklärt und ihr damit Mut gemacht.
»Nach sorgfältiger Abwägung aller Zeugenaussagen sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte damit lediglich das Ziel verfolgte, den Gouverneur und dessen Familie zu schützen. Daher wird auch dieser Anklagepunkt fallengelassen.« Der Richter legte das Blatt zur Seite. »Kommen wir zum letzten Anklagepunkt. Der Angeklagte wird beschuldigt, sich der Festnahme entzogen zu haben und aus dem Gouverneurssitz in Parramatta geflohen zu sein. Dafür wird der Angeklagte zu zehn Tagen Zuchthaus verurteilt. Da der Angeklagte sich bereits seit sechs Tagen in Gewahrsam befindet, hat er noch vier Tage zu verbüßen.«
Moira stieß einen weiteren kleinen Seufzer aus, sie bebte innerlich. Ein Raunen ging durch den Raum.
»Ich bitte um Ruhe!«, forderte der Richter. »Die Verhandlung ist noch nicht beendet. Seine Exzellenz Gouverneur King wird nun das Wort an Euch richten.«
Moira hob überrascht den Kopf, als der Gouverneur nach vorne trat. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er überhaupt anwesend war. Duncan drehte sich erneut um und warf ihr einen raschen, fragenden Blick zu. Sie schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch.
Der Gouverneur war es gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen, das merkte man schon seinen ersten Worten an. Er begrüßte die Anwesenden und schwang sich dann auf zu einer Rede über Werte und Tugenden des aufgeklärten Menschen, um damit zu schließen, wie sehr er Duncan verpflichtet sei, der sich beherzt gegen die rebellischen Straftäter gestellt und damit seine Frau und seine von ihnen beiden über alles geliebte Tochter Elizabeth vor dem Schlimmsten bewahrt habe.
»Ich habe gehört«, wandte er sich nun direkt an Duncan, »dass Euch wegen eines anderen Vergehens die Verbannung nach Norfolk Island droht.«
»Ja, Sir.« Duncans Stimme war rau. Moira konnte sehen, wie sich seine Fäuste ballten.
»Nun«, sprach der Gouverneur weiter, »nach allem, was Ihr für meine Familie getan habt, kann ich das natürlich nicht zulassen. Da das Urteil bereits gesprochen wurde, ist es leider nicht mehr rückgängig zu machen. Aber ich werde den Vollzug der Strafe auf unbestimmte Zeit aussetzen.«
Moira war benommen vor Dankbarkeit und Erleichterung. Hatte sie richtig verstanden – Duncan musste nicht nach Norfolk Island?
Von neuem erfüllte Raunen den Raum. Aber der Gouverneur war noch nicht fertig. Er hielt kurz inne, um sich umständlich in sein Taschentuch zu schnäuzen, dann hob er die Hand. Das Gemurmel verstummte.
»Ihr habt erst ein Jahr Eurer siebenjährigen Deportation hinter Euch, ist das richtig, Mr O’Sullivan?«
Duncan bejahte erneut, diesmal mit einem fragenden Unterton, und straffte sich.
»Nun, das ist zwar eigentlich zu wenig, aber diese besonderen Umstände
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