Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
PROLOG
Werner ist tot.
Wirklich tot. So langsam kommt es bei ihm an.
Schon komisch, dass er erst an diesem rechteckigen Loch stehen muss, um es zu kapieren. Es richtig zu verstehen. Ein Blick zum Sarg, dann zu den anderen. Dunkle Kleider, dunkle Augen.
Werner ist weg.
Für immer.
Um ihn herum rieseln Schneeflocken langsam zu Boden. Andere bleiben in nie enden wollenden Luftspiralen hängen. Die weißen Flocken treiben ihm die Tränen ins Gesicht. Das ist ihm nur recht. So sieht es wenigstens so aus, als würde er weinen.
Er dreht sich zu seiner Mutter um. Sie hat kalte, nasse Streifen auf den Wangen, steht reglos da und starrt zu dem glänzenden braunen Sarg hinüber. Neben ihr steht der Mann, der es am Morgen kaum geschafft hat, sich den Schlips zu binden, so sehr haben seine Hände gezittert. Beim Rasieren musste ihm jemand helfen. Vor einer Woche war er nur mit T-Shirt und Unterhose bekleidet nach draußen in das Schneegestöber gestürmt, mitten am Tag. Er hatte wild herumgeschrien und wie ein Verrückter angefangen zu graben, bis er Werner aus dem schweren Weiß befreit hatte, aber da waren dessen Lippen schon blau gewesen.
Werner und er hatten das nicht zum ersten Mal gemacht. Sie hatten Höhlen und Tunnel in die Schneeberge gegraben, durch die sie dann gekrochen waren, wohl wissend, dass die Decke über ihnen jederzeit einbrechen konnte. Sie hatten das Gefühl genossen, wenn sie heil wieder im Licht standen. Unversehrt. Sie hatten mit dem Tod gespielt – und gewonnen.
In der Regel.
Sie sind alle hier. Werners ganze Klasse, sogar einige Lehrer und auch Menschen, die er noch nie gesehen hat. Freunde der Familie. Freunde von Freunden. Alle sind traurig. Wenn nicht auch sie nur so tun.
Sein Bruder wird in die Tiefe hinabgelassen. Sie singen mit erstickten Stimmen. Über seine eigenen Lippen kommt kein Ton. Auch als sich anschließend alle in dem großen Haus versammeln, will er mit niemandem reden. Aber er isst und trinkt etwas. Als Einziger aus der Familie.
Erst am Nachmittag verschwindet er nach oben in sein Zimmer, legt eine Kassette ein und lässt sich aufs Bett fallen. Musik gibt ihm normalerweise ein gutes Gefühl, aber gerade will es sich nicht einstellen. Und es dauert einige Augenblicke, bis er versteht, warum.
Irgendetwas ist anders.
Er steht von seinem Bett auf und geht im Zimmer auf und ab, während er versucht herauszufinden, was anders ist. Dann sieht er das Bild von Werner an der Wand. Werner starrt ihn an. Das Bild hing dort zuvor nicht, doch jetzt hängt es plötzlich da und verursacht ihm weiche Knie.
Er hat niemandem erzählt, dass er gesehen hat, wie die Schneedecke über Werner eingestürzt ist. Er hat nichts getan, lange nicht, nur die Gefühle auf sich einwirken lassen, die ihn überrollten. Plötzlich war er Herr über Leben und Tod. Nur er hätte etwas tun können, um Werner zu retten.
Den Goldjungen.
Natürlich weiß er, wer das Bild dort aufgehängt hat. Er erinnert sich an die Schreie, als die Ärzte sagten, dass sie nichts mehr für Werner tun könnten. » Ihr werdet doch nicht aufgeben « , hat er geschrien, » bitte, ihr könnt doch nicht jetzt schon aufgeben! « Und dann sein Blick, als sie aus dem Krankenhaus zurück waren, auch an den Tagen danach, als sie wortlos am Esstisch saßen. Dieser Blick war nicht misszuverstehen. Weil er nicht weinte?
Nein.
Weil er sich nicht entschuldigte.
Das Spiel war seine Idee gewesen.
Er weiß, dass es nichts nützen wird, das Bild abzuhängen. Der Mann, der sich Papa nennt, wird es wieder aufhängen, immer wieder und wieder. Damit er nicht vergisst, niemals.
Werner hat auf Fotos immer gelächelt, nur auf diesem nicht. Er sieht direkt in die Kamera. Das seitlich gescheitelte Haar fällt ihm über die Augen, doch nicht tief genug, um ihr Leuchten zu verdecken. Es kommt ihm so vor, als höre er auch jetzt wieder die erstickten Schreie unter der weißen, tödlich schweren Schneemasse. Wie ein Echo.
Draußen vor dem Fenster ist es dunkel geworden, als er sich wieder aufs Bett setzt. Es hat aufgehört zu schneien. Aber selbst wenn es in seinem Zimmer geschneit hätte: Das Leuchten in den Augen seines Bruders würde er trotzdem sehen. Es wird nie verschwinden.
Werner ist nicht tot.
Ganz und gar nicht, das wird ihm jetzt klar.
Vielleicht beim nächsten Mal, denkt er. Beim nächsten Mal wird alles anders.
SEPTEMBER 2009
SONNTAG
1
Ole Christian Sund stellt das Glas mit einem dumpfen Knall auf den Tisch neben dem Krankenbett.
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