Das Lied des Todes
Deine Eltern werde ich töten müssen, ebenso viele andere Männer. Aber was mache ich mit einem Kind, das von sich behauptet, mein König zu sein?»
Die Unterlippe des Knaben bebte. Er sagte etwas, aber so leise, dass das Windgeheul es übertönte.
«Nun?», drängte Thankmar.
«Ich weiß nicht …»
«Mein König, aber ich weiß es! Ich werde dich in einen Käfig sperren und auf einem Ochsenkarren durchs Reich fahren lassen. Auf den Marktplätzen werden die Menschen mit Abfall nach dir werfen, mit faulen Eiern. Und wer will, darf dich auch anpinkeln! Wie gefällt dir das?»
Dem Kind rannen Tränen über die geröteten Wangen.
«Rede!»
Es kam keine Antwort mehr.
Auch Thankmar verstummte. Er hatte ein Geräusch gehört. Ein Geräusch im Turm. Es klang wie schlagende Flügel. Er erinnerte sich an den Vogeldreck, mit dem viele Stufen bekleckert waren. Vermutlich war es eine Taube gewesen.
Aber da war noch etwas. Schritte?
78.
Hakon stieg die schmale Treppe hinauf, als er mit einem Mal ein lautes Klatschen hörte. Flügelschläge. Er hob den Kopf und sah eine Taube zu einem Fenster fliegen und darin verschwinden. Er hielt inne. Neben der Treppe gähnte der Abgrund wie ein tiefer, dunkler Rachen. Vor den Fenstern heulte der Wind.
Sein Herz pochte. Er lauschte und hörte dann wieder aus der Tür die Stimme, die ruhige, fast sanfte Stimme.
Er zählte die Stufen bis zu der geöffneten Tür am oberen Ende der Treppe. Noch zehn Stufen. Er schlich weiter.
«Was für einen herrlichen Ausblick man von hier oben hat», sagte die Stimme.
Hakon blieb erneut stehen. Klang die Stimme jetzt nicht anders? Betonter? Er verwarf den Gedanken. Noch fünf Stufen.
«Du solltest dir das anschauen, Junge. Das solltest du wirklich tun …»
Hakon erkannte hinter der Tür die Glocke, die unter einer Holzkonstruktion an der Decke des Glockenraums hing.
«Stattdessen sitzt du herum und heulst wie ein Mädchen …»
Noch drei Stufen. Jetzt konnte Hakon fast den ganzen Raum einsehen, nur das Fenster nicht, das hinter der Wand neben der Tür liegen musste.
«Die endlose Weite ist wirklich beeindruckend …»
Auf der letzten Stufe hielt Hakon inne. Er nahm an, dass der Graf mit dem Rücken zur Tür stand.
«Da unten ist dein Vater. Er sieht ganz klein aus …»
Hakons Finger schlossen sich um den Messergriff.
«Und ich glaube, er zerbricht sich den Kopf darüber, wie er dich retten kann. Aber das ist unmöglich. Er weiß, dass ich dich sofort töten würde. Niemand kommt hier herauf. Niemand wird dich holen …»
Jetzt! Hakon setzte durch die Tür, stürmte in den Raum, dann nach links. Sah das breite Fenster. Sah den blauen Himmel. Sah den Saum des Banners, das unterhalb des Gesimses an Haken befestigt war. Und er spürte mit einem Mal einen sanften Druck auf seiner Schulter. Es war keine Hand, es war etwas Hartes, Stahlhartes, das zu seinem Hals glitt.
«Dreh dich zu mir um!» Die Stimme war hinter ihm, die ruhige, fast sanfte Stimme.
Hakon drehte sich um.
Der Graf musterte ihn mit kalten Augen über lächelnden Lippen. «Man hört es an den Schlägen der Flügel, ob eine Taube aufgescheucht wurde.»
Der Königssohn kauerte neben dem Grafen am Boden und starrte Hakon an.
«Wer bist du?», fragte der Graf.
Hakon schwieg.
Die Stahlspitze kroch über seinen Hals bis an die Kehle. Das leichte Zittern in der Hand des Grafen übertrug sich auf die Klinge.
«Wer bist du?»
«Du kennst mich», sagte Hakon.
Der Graf zog die Augenbrauen zusammen. «Hladir?»
Hakon nickte.
«Der Normanne. Der dunkle Krieger mit dem Raben. Du wolltest mich töten.»
«Nein.»
«Nein?»
«Ich will dich noch immer töten.»
Der Graf lächelte schief. «Mit dem Messer?»
«Ja.»
Das Lächeln wurde breiter. «Du musst verrückt sein, vollkommen verrückt! Niemand kann mich töten.»
Die Lippen öffneten sich, und weiße, feste Zähne blitzten auf. Die Zähne, die sich in Bergljots Finger gegraben hatten.
«Du bist entweder sehr mutig oder sehr dumm, Normanne. Eine lange Reise hast du auf dich genommen, um hier zu sterben. Das hättest du einfacher haben können. Aber …»
Der Graf lachte. «Aber ob es nun Dummheit ist oder Mut – du verdienst meinen Respekt. Ich achte Männer, die ihr Leben dafür geben, um ein großes Ziel zu erreichen.»
Der Druck der Klinge löste sich, als der Graf das Schwert ein Stück zurückzog.
«Es ist gut, dass du hier bist», sagte er. «Es wird noch einen Moment dauern, bis der König die
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