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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Überlebenden und bildeten Schildwälle. Der Vormarsch stockte. Noch waren die Soldaten des Königs stark. Sie schienen den ersten Schock überwunden zu haben und warfen sich mit dem Mut der Verzweifelten Thankmars Kriegern entgegen.
    Aber auch das konnte nicht mehr sein als ein letztes Aufbäumen, ein letztes Zucken im Angesicht des Todes. Der Sieg war in greifbarer Nähe, und solange das Banner am Glockenturm hing, würde Thankmars Heer kämpfen. So lautete der Befehl. Er würde das Banner erst einholen, wenn der König besiegt war.
    Thankmar lachte in den klaren, sonnigen Tag.
    Vergessen war der gescheiterte Giftanschlag. Sicher, es wäre schneller gegangen, und viel Blut wäre nicht vergossen worden. Aber sie wollten es nicht anders, und nun entschied das Schwert. Jeder bekam, was er verdiente – sein Feind den Tod und Thankmar die Krone.
    Niemand konnte ihn noch aufhalten.
    Sein Blick glitt vom brennenden Heerlager hinunter ins Atrium, wo sich am Fuß des Turms das Volk drängte. Alle waren sie in den Hof gestürmt, die Reichen und Mächtigen, zunächst um dabei zu sein, wenn Ottos Soldaten die Blutmäntel niedermetzelten. Sie hatten zu früh triumphiert. Jetzt war es nackte Angst, die sie im Atrium hielt, die Angst vor den Kriegern draußen vor den Mauern und die Angst vor ihm, Thankmar, der über ihnen thronte.
    Er beugte sich aus dem Fenster. Tief unten sah er die Blutmäntel unter Bartholds Führung das Portal sichern. Sie brüllten aus Leibeskräften, nannten Otto und seine Soldaten Feiglinge und Aasfresser. Der König selbst tat, als prallten die Beschimpfungen von ihm ab, während er hinter den Seinen lauerte. Sein Schwert steckte in der Scheide. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte nach oben zum Fenster.
    Thankmar war überzeugt, dass Otto seine Soldaten, die den Blutmänteln um ein Vielfaches überlegen waren, nicht von der Kette lassen würde. Nicht, solange die Geisel hier oben war und das Banner wehte.
    Otto durfte das Leben seines Sohnes nicht gefährden. Ohne den Knaben wären all seine Pläne gescheitert. Er konnte nicht nach Rom ziehen, ohne im Reich einen Stellvertreter zurückzulassen, der Ottos Linie fortführte, sollte dem König etwas zustoßen. Ja, ohne seinen Sohn musste Otto auf das Größte verzichten, nach dem er strebte – die Kaiserwürde.
    Thankmar schloss für einen Moment die Augen. Der Wind kühlte seine vor Erregung erhitzte Haut, während er die Zukunft an sich vorüberziehen ließ, wie einen süßen Traum, der bald Wirklichkeit werden würde.
    Er sah sich, wie er dem König das Haupt abschlug und den Kopf in einer versiegelten Kiste nach Rom schickte. Der Papst würde das Geschenk als eindeutiges Zeichen verstehen. Er würde Thankmar bitten – nein: anflehen! –, selbst die Kaiserwürde zu empfangen.
    Ottos Günstlinge, all die Prahler und Speichellecker, würde Thankmar an den Galgen bringen und sie dort so lange hängen lassen, bis Krähen ihre Augen ausgepickt und Ungeziefer sich an den Eingeweiden gemästet hätten.
    Und Ottos Weib? Diese verkniffene, blasse Hure? Sollte er sie … Nein! Thankmar lächelte im Stillen. Er hatte eine Gemahlin. Eine Gemahlin für eine einzige Nacht. Seine Königin sollte schön wie ein Schmetterling erstrahlen und dann vergehen, zerbrechen, zu Staub zerfallen, wenn ihre Aufgabe erfüllt war. Wenn der Fluch für immer gebannt war.
    Thankmar öffnete die Augen wieder und drehte sich zu dem Knaben um, der weinend neben der Tür, die zur Treppe führte, kauerte. Die Angst des Knaben war zu riechen.
    Er grinste. Sie hatten einen sechsjährigen Hosenscheißer gewählt und zum König gekürt. Welch unwürdige Wahl.
    «Kleiner!», rief er.
    Das Kind zitterte vor Angst.
    «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!»
    Der Knabe hob den Kopf. Seine Augen schimmerten tränenfeucht.
    «Hat es dir gefallen, König zu werden?»
    Der Kleine nickte scheu.
    «König!», zischte Thankmar. «Wie fühlt es sich für dich an?»
    «Sie … haben mir alle zugejubelt», wisperte er.
    «Sprich lauter!»
    «Mir zugejubelt.»
    «Hat dir das gefallen?»
    «Ja.»
    «Und die Krone? War sie nicht zu schwer für deinen kleinen Kopf?»
    «Ich … nein. Sie hat gefunkelt, mit Edelsteinen. Ich mag Edelsteine.»
    «Edelsteine mag er. Wie soll ich dich anreden? Mein König? Mein Herr und Gebieter?»
    Thankmar lachte laut. «Oder Rotznase?»
    «Ich weiß nicht. König vielleicht …»
    Thankmar lachte noch lauter. «Gut, mein König. Dann hör mir gut zu.

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