Das Luzifer Evangelium
Publikationen und Internetseiten, die mir weiterhelfen könnten. Ich logge mich anonym in wissenschaftliche Foren und religiöse Chatrooms ein und studiere die merkwürdigsten Homepages von Menschen mit einem Hang zum Okkulten und Mystischen. Ich schreibe vertrauliche E-Mails an Kollegen, denen ich vertraue. Ich bitte sie um Hilfe und Diskretion. Ich habe viele Antworten erhalten, doch trotzdem ist mir nichts klarer geworden.
Wonach suche ich eigentlich?
Wenn es Nacht wird, bin ich nicht mehr so gern auf der Alm. Allein unter dem weiten Sternenhimmel fühle ich mich so klein, und dann überkommt mich Angst. Als wäre jemand dort draußen im Dunkeln. Jemand, der mich beobachtet, den ich selbst aber nicht sehen kann.
Jemand oder etwas …
Ich wage es nicht, das Licht einzuschalten, also begnüge ich mich mit ein paar Kerzen und ziehe die Gardinen zu. Ich sitze im Stockdunkeln und denke an den Mord an Christian Keiser, an all das, was in Kiew geschehen ist.
Was ist bloß geschehen?
Erster Teil
Diener des Satans
Weniger widerwärtig, aber nicht minder grausam ist
die Sekte der Himmelsopferer. Ein Hauptdogma ihrer Lehre
ist die mystische Anschauung, dass nur jene Seligkeit erlangen,
die ihre Sünden mit einem qualvollen Tod gebüßt haben,
sei dieser Tod nun freiwillig oder durch die rettende Hand
eines anderen herbeigeführt.
LEOPOLD VON SACHER-MASOCH
RUSSISCHE SEKTEN (1890) Caedite eos! Novit enim Dominus qui sunt eius. Tötet sie alle! Der Herr wird die Seinen erkennen.
ARNAUD AMALRIC (1209)
Vorhergehendes Titelblatt: Vor dem Massaker an den christlichen Katharern im französischen Béziers am 21. Juli 1209 wurde dem päpstlichen Gesandten Arnaud Amalric von einem Kreuzfahrer die Frage gestellt, wie sie die Katharer von den Katholiken unterscheiden sollten. Nach Überlieferung des Historikers Caesar von Heisterbach, einem Zisterziensermönch, soll Amalric geantwortet haben: »Tötet sie alle! Der Herr wird die Seinen erkennen.« In seinem Bericht an den Papst rühmte sich Amalric damit, zwanzigtausend Menschen ausgerottet zu haben. Junge und Alte, Männer, Frauen, Kinder, Katharer, Heiden und Katholiken. Arnaud Amalric wurde einige Jahre später zum Erzbischof von Narbonne ernannt.
I : Die Mumie
KIEW
9. MAI 2009
1
Die Mumie grinste mich an wie ein Gespenst.
Die Jahrhunderte hatten die Gesichtshaut nach hinten gezogen und das Gebiss freigelegt, das mir wie eine Reihe von Reißzähnen entgegenstrahlte. Zahnfleisch und Nase waren eingetrocknet. Die straffen Lippen und die eingefallenen Augen – sie waren schmal und katzenartig und sahen wenig menschlich aus – verliehen dem mumifizierten Mann einen fauchenden, tierischen Ausdruck.
»Wer war er?«, flüsterte ich.
»Ein Mönch? Ein Pilger?«
»Er sieht aus wie ein Vampir.«
Der Konservator Taras Koroljov bekreuzigte sich. »Manchmal trocknen die Leichen so ein. Die Balsamierung der Natur macht aus ihnen beängstigende Monster.«
Unten aus dem Haupttunnel, der mit Signalbändern und Holzabsperrungen abgeriegelt war, hörten wir die Stimmen der Touristen. Um zu der versteckten Grabkammer zu gelangen, hatte mich der Konservator über Hunderte von Metern durch lange, steinerne Tunnel geführt. Koroljov war ein kleinwüchsiger, untersetzter Mann mit kugelrunden Augen und einem Gesichtsausdruck, der einen glauben ließ, er stünde soeben vor einer verblüffenden Entdeckung. Als Museumskonservator des Kiewer Höhlenklosters in der Ukraine war er den Umgang mit Toten gewohnt. In den tiefen Katakomben des Klosters schliefen Mönche und Heilige in ihren weiß gekalkten Zellen und Grabkammern den ewigen Schlaf. Die kalten, trockenen Luftströme, die durch das Netz aus Tunneln und Grotten zogen, hatten die Leichen über die Jahrhunderte mumifiziert.
Niemand im Kloster oder im Museum wusste mit diesem Mönch etwas anzufangen, er war unbekannt. Vier Studenten hatten die Grabkammer bei routinemäßigen Instandhaltungsarbeiten hinter einer Steinwand entdeckt, die am Ende eines Blindgangs hinter einem Altar errichtet worden war.
Ein mumifizierter Leichnam. Ein Mönch.
In den Händen, die so mager waren, dass sie an die Klauen eines Reptils erinnerten, hielt die Mumie ein zusammengerolltes Manuskript.
2
Eine Bagatelle ist niemals unbedeutend. Der federleichte Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Orkan auslösen, eine aus dem Gleichgewicht geratene Schneeflocke eine Lawine. So erklären die Mathematiker die kuriose Tatsache, dass schon winzige
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