Das Mädchen, das nicht weinen durfte
blau?« Mir zu antworten war wirklich nicht einfach, aber egal, was ich fragte, mein Vater wusste immer etwas Originelles als Erklärung, das mich zufriedenstellte.
Neben Karim habe ich noch zwei Brüder: Farid, der zehn Jahre älter ist, und Jamal, der ein Jahr jünger ist als ich. Nanna, meine Schwester, kam noch ein Jahr später, sodass meine Mutter mit uns dreien sozusagen dauerschwanger gewesen war. Chuchu, meine zweite Schwester, kam als Nesthäkchen erst acht Jahre nach mir auf die Welt, da war mein Vater schon über 50. Wie alt genau, wusste er selbst nicht. Angeblich wurde er 1933 geboren, so stand es zumindest in seinem Pass, aber zu dieser Zeit waren Geburtsurkunden in Somalia nicht üblich. Meine Mutter war deutlich jünger als er, laut Ausweis war sie 1955 geboren.
Das Geburtsdatum spielte in der somalischen Kultur keine Rolle, es gab auch keine Geburtsurkunden. Wozu auch? Die Menschen hatten ganz andere Probleme. Es war eine Seltenheit, wenn jemand lesen oder schreiben konnte. Nur weil mein Vater ein gebildeter Mann war und die Geburtsdaten seiner Kinder für das Diplomatenleben in anderen Ländern wissen musste, kennen wir Kinder unsere genauen Geburtstage. Wenn man meine Mutter danach fragt, antwortet sie etwas wie: »Es war im Morgengrauen, gegen Ende des Jahres.«
Das ist auch der Grund dafür, dass viele Menschen aus Entwicklungsländern in ihren Pässen Schnapszahlen als Geburtsdaten angeben, wie etwa den 05.05.1955 oder den 06.06.1966.
Wenn sie schon irgendein Geburtsdatum in den Pass eintragen müssen, dann wenigstens eines, das man sich leicht merken kann, für den Fall, dass jemals weitere bürokratische Fragen das Leben kreuzen sollten.
Meine frühe Kindheitswelt
Jeden Morgen versuchte ich immer wieder aufs Neue, den Kindergarten zu schwänzen. Mit aller Kraft versuchte ich mich dagegen zu wehren, wenn unser Chauffeur Food Adde uns ins Auto zerrte. Sein Name bedeutet so viel wie »Weiße Pfote«. Wir nannten ihn so, weil er einen großen, pechschwarzen Afro hatte, in dem vorn über seiner Stirn ein breiter weißer Streifen war. Er hatte morgens den Auftrag, uns in den Kindergarten zu bringen, und das versuchte er auch, obwohl es wirklich nervenaufreibend war. Wir wären viel lieber zu Hause geblieben und hätten in dem Wald gespielt, der gleich nebenan lag. Wir liebten diesen Wald, er hatte etwas Märchenhaftes. Dort fand man Pilze und leckere Beeren, und es gab viele gute Verstecke, wo man beim Spielen nie gefunden wurde. Dieser Märchenwald war unser Traumziel.
Meine Geschwister Jamal und Nanna stellten sich bei den morgendlichen Fluchtversuchen besonders raffiniert an. Sie rannten kurz vorm Auto einfach in verschiedene Richtungen davon und der arme Food Adde wusste gar nicht, wen er zuerst wieder einfangen sollte. Ich aber legte mich lieber mit ihm an, mit Fäusten und Beinen schlug ich schreiend um mich und dachte, ich könne ihn so besiegen. Aber am Ende war ich meist die Einzige, die in den Kindergarten gefahren wurde, während die beiden Kleinen immer noch in irgendwelchen Verstecken hockten und sich ins Fäustchen lachten.
Irgendwann gewöhnte ich mich schließlich an den Kindergarten. Wir hatten zwei Betreuerinnen, eine von ihnen mochte ich
ganz besonders. Sie hieß Sabine und hatte eine Vokuhila-Frisur: Vorn standen ihre kurzen, blonden Haare stachelig hoch und hinten ließ sie sie zu einem langen, dünnen Schwänzchen wachsen. Sie trug immer eine verwaschene, enge, hellblaue Karotten-Jeans, die ihr ein wenig zu kurz war, deshalb blitzen ihre bunten Socken darunter hervor. Dazu trug sie entweder einen grauen Strickpulli oder einen bunten, wild gemusterten Pullover. Ihr großer Busen wölbte sich deutlich unter den weit geschnittenen Pullis. Obwohl Sabine noch sehr jung war, hatte sie dadurch etwas Mütterliches an sich. Ich mochte sie sehr. Sie machte uns Pfefferminztee und las aus Hänsel und Gretel vor. Bevor wir unseren Mittagsschlaf hielten, gab sie jedem einen Gutenachtkuss.
»Schlaf gut und träum was Schönes«, flüsterte sie uns ins Ohr und strich uns über die Wange. Am Mittagstisch sagte sie mir oft, dass ich meinen Kopf nicht auf meine Hand stützen solle, und als ich sie fragte, warum, erklärte sie mir, dass mein Kopf viel zu schwer für meine kleine Hand sei. Noch heute muss ich an sie denken, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich den Kopf auf die Hand stütze.
Sie brachte uns auch Schritt für Schritt bei, wie man Schnürsenkel bindet. Ich kann mich noch
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