Das Mädchen: Roman (German Edition)
Diskothek bleiben. Während die Kinder aus der Gruppe der Kleinen und Mittleren alle Anweisungen strikt befolgen müssen, werden die großen Jungs mit Nachsicht behandelt. Herr Nissen, der Heimleiter, steht oft bei ihnen, sie grillen, trinken Bier in der flirrenden Sommerluft, während die anderen Kinder nur von Weitem zusehen dürfen. Mit ihr hat Herr Nissen noch kein persönliches Wort gewechselt, obwohl er ihren Namen in die Liste der positiven Gruppe eingetragen hat. Seine halslose Gestalt erinnert sie an eine Rohrdommel, der Bauch scheint schon am Kinn zu beginnen, und er läuft etwas steifbeinig, als müsse er das Gehen noch üben. Wochentags erklingt seine Stimme pünktlich um sechs Uhr morgens durch den Lautsprecher und ruft zum Frühsport auf. Keines der Mädchen hält sich daran, sie trotten schlaftrunken in den Waschraum, und erst nach dem Frühstück, wenn sie den Schulweg antreten, werden sie langsam wach. Die Strecke vom Heim in den nächsten Ort beträgt drei Kilometer, sie laufen, den Ranzen auf dem Rücken, in Zweierreihen hintereinander, und noch immer hat sie sich mit keinem der Kinder angefreundet, sie bleibt für sich, redet nur, wenn sie angesprochen wird.
In der Schule sitzt sie neben Carmen, deren Spitzname Radatte lautet, sie sind in der Klasse die beiden einzigen Heimkinder. Sie mustert die anderen und wird von ihnen gemustert, von den Jungs wird sie offenbar für nicht tauglich befunden, für nicht schön, etwas in dieser Art müssen ihre Blicke bedeuten, das spürt sie genau, und auch die Mädchen scheinen mit ihr nichts anfangen zu können.
Es gibt eine kleine Bibliothek im Gruppenraum, dort sitzt sie, auch an den schon warmen Sommertagen, hört durch das Fenster die Gänse krakeelen und versinkt in den Märchenwelten, hält sich bei den Feen auf, den Trollen und Derwischen. Sie liebt die Sonntage, frühmorgens blättert sie leise die Buchseiten um, während die anderen noch schlafen und der Kuchengeruch sich im ganzen Haus ausbreitet. Der Kuchen wird von der Bäckerei aus dem Nachbardorf geliefert, Eierschecke mit einer zarten Bienenstichkruste, luftiger Käsekuchen, Streuselschnecken, schokoladenüberzogener Marmorkuchen mit Kirschen, der Schneewittchen heißt, und dieses Paradies auf Blechen verströmt einen Duft, der ihr fast den Atem nimmt.
Ihr Platz im Speisesaal ist an der Stirnseite eines Sechsertisches, ihr gegenüber sitzt ein unglaublich fetter Junge. Dieser August Kreische hat einen ähnlichen Hunger wie sie, Kartoffeln, Fleisch, Wurstbrote verschwinden blitzschnell in seinem Mund, und noch während er sich die glänzenden Lippen leckt, muss der Tischdienst seinen Teller nachfüllen. Niemand wagt, ihm zu widersprechen, er ist der Älteste in der Gruppe der Großen, und dem Anschein nach ist ihm alles egal; mit einem Fingerschnipsen bringt er die anderen Kinder dazu, ihm ihren Nachtisch zu bringen, die Erzieherinnen sehen darüber hinweg; es kümmert ihn auch nicht, wenn ein Speichelfaden in seinem Mundwinkel hängt oder Flecke seinen Pullover zieren, er hat nur Augen für das Essen auf dem Tisch. Als sie sich weigert, ihm ihren Pudding zu überlassen, hievt er sich wortlos von seinem Stuhl, geht zu ihr, gibt ihr eine Kopfnuss und nimmt sich ihren Pudding. Der Schlag dieser Pranke wirft ihren Kopf herum, sie sieht Sterne und schafft es trotzdem, nicht loszuheulen.
Es gibt zwei Köchinnen im Kinderheim, die ihre Arbeit so gut verstehen, dass sie sich wie im Schlaraffenland vorkommt; stehen Hefeklöße auf dem Speiseplan, schafft sie zwölf Stück, und danach steckt sie sich als Vorrat noch zwei große Klöße in ihre Schürzentaschen. Doch zu ihrem Leidwesen nimmt sie kein Gramm zu, schon gar nicht an den richtigen Stellen, sie kommt sich wie eine Stabheuschrecke vor oder ein Stelzvogel; lange, schlaksige Gliedmaßen, zwei Brustwarzen, der Bauch leicht geschwollen und ein nackter Hamster zwischen den Beinen. Samstags ist Duschtag. In dem großen Gemeinschaftswaschraum gibt es einen abgetrennten Teil, in dem die Mädchen nebeneinander unter zehn an der Decke befestigten Duschen stehen, und am liebsten möchte sie sich diesem Reinigungsritual entziehen, denn die Blicke der anderen Mädchen sind unerbittlich. Aber auch die Jungs, die Mittel und Wege finden, sich das Duschspektakel anzusehen, sind nicht zimperlich. Gerippe hat ’nen nackten Hamster, schallt es durch den Raum. Gerippe ist einer ihrer Spitznamen, ansonsten wird sie noch Speiche oder Hungerhaken gerufen.
In der
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