Das Mädchen: Roman (German Edition)
attraktiv.
Die Erzieherin begleitet sie durch das Haus, erklärt ihr Regeln und Pflichten – eine Menge Dinge sind verboten –, zeigt ihr den Gruppenraum im ersten Stock und die übrigen Räume, führt sie durch das weitläufige Gelände und macht sie mit den anderen Erzieherinnen bekannt. Den Heimleiter lernt sie im Vorübergehen kennen, er ruft ihr zu, sie solle sich die Haare zusammenbinden; er ist ein korpulenter Mann, sein Gesicht von roten Äderchen durchzogen, er gibt ihr nicht einmal die Hand oder stellt sich vor, und seine Stimme klingt ärgerlich.
Beim Abendessen ist ihr Blick vor Müdigkeit verschleiert, sie nimmt die Gesichter um sich herum kaum wahr, registriert nicht, was sie isst, obwohl sich ihr überreizter Hunger mit der Schärfe einer Klinge in den Magen gebohrt hat.
In der ersten Nacht wacht sie ständig auf, in ihrem Kopf wirbeln die Gedanken umher, sie stellt sich ihren Bruder Elvis vor, sein Näschen, die glucksenden Geräusche, wenn sie ihm die Flasche gibt. Sie muss daran denken, wie der Vater ihr erzählt hat, dass die Mutter sie als Säugling ersticken wollte und er dies nur durch seine Wachsamkeit verhindern konnte. Sie will keinen Gedanken mehr an ihre Mutter verschwenden, doch immer wieder schreckt sie atemlos aus dem Schlaf.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht, dringt Kuchengeruch durch die Tür. Es ist Sonntag. Sie bleibt im Bett liegen, bis Andrea und Carmen wach werden, ihre Fragen beantwortet sie zögerlich. Wo kommt sie her, warum ist sie hier, hat sie was angestellt? Was soll sie dazu sagen, so richtig weiß sie selbst nicht, warum sie hier ist. Sie spürt, wie sie unter ihren neugierigen Blicken linkischer wird und die Mädchen das Interesse an ihr verlieren. Sie macht einfach das, was sie auch tun, zieht das Laken glatt, faltet die Steppdecke, folgt ihnen in den Waschraum. Sie gibt sich den Anschein von Gelassenheit, als sich die anderen nackt an ein rundes, steingraues Waschbecken stellen, über dem Becken sind in Brusthöhe mehrere Wasserhähne, die Mädchen waschen sich, putzen die Zähne, spucken das Gurgelwasser geräuschvoll aus. Während sie sich des Schlafanzugs entledigt, hat sie das Gefühl, dass alle Augenpaare auf sie gerichtet sind, sie meint, ein Kichern zu hören, und möchte vor Scham im Boden versinken.
Später reiht sie sich in die Schlange vor dem Speisesaal ein, Jungs und Mädchen stehen laut redend hintereinander. Sie steht schweigend da, und als ihr jemand auf den Rücken tippt, dreht sie sich um. Ein rothaariger Junge zeigt ihr grinsend sein Pferdegebiss und sagt: Da hängen zwei Fäden an deiner Schürze herunter.
Sie guckt und guckt, kann keine Fäden an ihrer nagelneuen Schürze entdecken. Sie erkennt nur an dem einsetzenden Gelächter, dass es sich um einen Scherz handeln muss, und braucht noch eine Weile, bis sie merkt, dass mit den zwei Fäden ihre Beine gemeint sind.
Das Kinderheim liegt an einer Landstraße, der große, mit Birken bewachsene Garten dahinter grenzt an eine Gänsefarm. Das Haus ist ein Bau aus den zwanziger Jahren und steht so vereinzelt in der Landschaft, als wäre es vom Himmel gefallen. Die Eingangstür aus Eichenholz lässt sich nur schwer öffnen, über der Tür steht in roten Buchstaben: Kinderheim Geschwister Scholl.
Im Erdgeschoss sind der Gemeinschaftswaschraum, die Küche, der Speisesaal und hinter einem Flur die Schuhputzkammer. Die Treppe zu den oberen Stockwerken hat einen kleinen Absatz, dort hängt hinter einer Glastafel ein Plakat mit den zehn Geboten der sozialistischen Moral. Das zweite Gebot lautet: »Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen.«
Wie soll sie ein ganzes Land lieben, fragt sie sich, wenn sie nicht einmal ihre Familie lieben kann, und warum heißt Vaterland Vaterland, würde ihr Vater ein Land regieren, ginge es dort drunter und drüber. Die anderen neun Gebote erscheinen ihr genauso komisch, das dritte Gebot lautet: »Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen.« Wie soll sie das anstellen? Dem Heimleiter seinen Wartburg wegnehmen und einem Ärmeren schenken? Seine privaten Wohnräume befinden sich in einem zweistöckigen Anbau, direkt neben dem Heim, am Wochenende arbeiten dort die Jungs aus der Gruppe der Großen, gerade sind sie dabei, eine Sauna einzubauen. Dafür bekommen sie Vergünstigungen, dürfen rauchen und bis nach Mitternacht in der
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