Das Merkbuch
hatte; falsche, zu niedrige Angaben über die Gütermengen; die 300 Tonnen Brechstangen, die sich als Schrott erwiesen und gleich in die Staaten zurückgingen. Der berühmte Lagerverwalter aus Lauf an der Pegnitz, der einen großen Posten Baumwollgarn für DM 2,50 das Kilo verkaufte, obwohl es DM 20 wert war.
Segeltuchgamaschen, Schuhfette, Brechstangen – so befand sich Vater bei der Steg inmitten der ungeheuren Warensammlung, als die der Krieg übrigblieb, grober Schrott, feiner Ramsch, verborgene Kostbarkeiten, der künftige Reichtum Westdeutschlands. Und mit den Parkas und den Blue Jeans, die man dort so billig kaufen konnte, staffierten die Steg Shops dann die revolutionären Studenten der Sechziger aus. Jeans, Parkas, die Hosen und Mäntel, die keine Modeartikel waren, vielmehr unmittelbar der Natur zu entstammen schienen. Bei der Steg in Stuttgart, Marienstraße 41, stand der Schreibtisch von Vater keinesfalls in der Hölle, vielmehr im Mittelpunkt der Weltgeschichte, der vergangenen wie der künftigen, Nachkrieg, Jugendrevolte.
Nichts steht in Vaters Merkbuch über Sinn und Zweck der Steg, über ihr Büro in Stuttgart, die Vorgeschichte, die Legenden von Schwarzmarkt und Leichtsinn, in denen sich die Geschichte dieser deutsch-amerikanischen Ramschverwertung von Militärgütern bis 1951 verdichtet hatte.
Sonnenaufgang um 6 Uhr 57, Sonnenuntergang um 17 Uhr 51, das Merkbuch notiert das kosmische Geschehen. Mondaufgang um 22 Uhr 28, Monduntergang um 7 Uhr 56. Vater war in Korntal. Der Adressenteil hinten im Merkbuch führt Erich Wertz auf, Korntal, Friedrichstr. 48, am Telefon zu erreichen unter 80 301. Und weil wir uns gerade hier bei den Adressen befinden: Vater besaß – neben der Steg – eine eigene Verbindung in die USA . Herbert Koy, 2325 East/126th Street, Willowbrook, USA . Von dort kamen in den Nachkriegsjahren viele Fresspakete, denen Extrageschenke für den Sohn beigefügt waren, Comics, Blue Jeans, damals ganz unbekannt, ja, ohne Namen, von Mutter und Sohn fassungslos bestaunt.
Keine Berechnung des Fahrgelds von Stuttgart nach Korntal in dem Merkbuch. Vater war natürlich ohne Auto, womöglich holte ihn Erich Wertz mit dem seinen in der Berglenstraße ab, oder er fuhr Vater, der mit Bus und Bahn nach Korntal angereist war, mit seinem Auto hinterher zurück zu Klara Winkler.
Vater verbrachte Sonntag, den 25. Februar 1951, bei seinen Freunden, der Familie Wertz, in Korntal bei Stuttgart und zeichnete das in seinem Merkbuch auf. Eine echte Aufzeichnung, die über das Genre des persönlichen Geschäftsberichts, an das sich das Merkbuch durchgehend hält, hinausgeht. Der Ortsname Korntal öffnet einen anderen Raum, als Steg/Stuttgart oder Spinnfaser/Kassel ihn umschreiben.
Während Kassel oder Stuttgart, später München und Bremen sämtlich von Vaters Vorgesetzten gegengelesen werden könnten – er kann ihnen das Merkbuch als Beleg für seine Aufenthalte und Tätigkeiten vorweisen –, müssten sie Korntal ignorieren. Korntal geht sie nichts an, es fällt auf den Sonntag, und womit Vater sich in seiner Freizeit beschäftigt, bleibt für sie ohne Belang. Korntal schreibt Vater einzig für Vater auf – ein einziges Wort, hat die experimentelle Poesie in der Nachfolge Mallarmés demonstriert, vermag sich auf der leeren Seite zum Gedicht zu entwickeln, wenn wir das Merkbuch mal als Literatur würdigen wollen. Vater schreibt, indem er Korntal schreibt, im emphatischen Sinn. »Daß ihm der Text nicht die einzige Flamme ist«, schwärmt ein Dichter über das Schreiben, »in der alles übrige verlangende Gesträuch auflodernd verginge, wird ihm oft genug zur strengen Qual. Er will Text sein und weiter nichts. Er schämt sich jeder anderweitigen Sehnsucht.« 3 Das ist, auf Korntal angewandt, natürlich maßlos übertrieben; Vaters Sarkasmus könnte sich austoben.
Bleiben wir bei Aufzeichnung, wenn es um die Bestimmung des Genres geht, irgendein Schrieb ohne Spezifizierung. Das Unspezifische macht den Reiz der Aufzeichnung aus, das einfache Registrieren, Korntal, außerhalb des Registrierens, mit welchem Vater Tag für Tag sich befasst. Warum wird etwas aufgeschrieben und nicht nichts, gegen diesen Nihilismus setzt Vater sein Korntal, indem er es schreibt. Niemand erwartet das von ihm; er selbst erwartet es nicht von sich selbst (so wie er, als Stellvertreter seiner Vorgesetzten, die täglichen Geschäftseintragungen von sich erwartet). Er schreibt diesseits aller Erwartung: Korntal.
Aber wo
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