Das Merkbuch
enthielt Hackfleisch, und darüber war Reibekäse gestreut. An Neujahr hatte es vielleicht das sprichwörtliche Schnitzel mit Mischgemüse und Salzkartoffeln gegeben, ein beliebtes Festessen der Zeit. – Kein Wort in Vaters Merkbuch über die Spaziergänge mit Mutter und Sohn in der Landschaft, in den Wäldern um die kleine Stadt herum, vielleicht lag Schnee und zauberte eine richtige Winteridylle hervor. Und dann die empörten Reden, die Vater am Mittagstisch und bei den Spaziergängen über die anstehende Wiederbewaffnung Deutschlands hielt, Reden, denen der achtjährige Sohn ebenso aufmerksam wie verständnislos lauschte.
Es handelt sich um kein Diarium, worin Vater aufzeichnete, wie der Lauf der Begebenheiten, wie sein Leben Tag für Tag sich gestaltete, um es an seinen Sohn zu überliefern, dieses Leben – dann müsste einfach mehr drinstehen in dem Merkbuch. Auch für periodische Selbstbetrachtung, das Memorieren der eigenen Erlebnisse, bietet der vierzehnfache Eintrag Urlaub gar keinen Stoff.
Es muss sich um so etwas wie einen persönlichen Tätigkeits- oder Geschäftsbericht handeln, was Vater in seinem Merkbuch verfasst. Oder um Vorarbeiten für einen solchen Tätigkeits- und Geschäftsbericht, sollte er ihm irgendwann abverlangt werden: 14 der ihm zustehenden Urlaubstage jedenfalls hätte er 1951 direkt nach Neujahr verbracht, nachweislich.
Vater war von Beruf Wirtschaftsprüfer, Revisor. Er kannte sich also von Beruf wegen aus mit Tätigkeits- und Geschäftsberichten, mit Abrechnungen und Bilanzen, mit Buchhaltung.
Sie liefert ihm gleichsam das Vokabular für seine eigenen Aufzeichnungen. Von dort gewinnen sie ihre eigene poetische Qualität, Urlaub Urlaub Urlaub Urlaub . . .
Spinnfaser, Kassel, heißt es am 18. Januar. Darunter steht Mittag und etwas Unleserliches. Am Freitag heißt es do, was dito bedeuten soll, also an diesem Tag ebenfalls Arbeit bei der Spinnfaser, darunter Vorschuss DM 300 und wiederum Mittag.
1951 produzierte die Spinnfaser in Kassel-Bettenhausen schon wieder 100 Tonnen Zellwolle am Tag, dasselbe Quantum wie vor dem Krieg. Das Werk beschäftigte mehr als 2300 Arbeitskräfte, für die 1951 ein eigener Werksarzt eingestellt wurde. 1951 fügte die Spinnfaser den werkseigenen Erholungsstätten in Bad Hersfeld und in Oberstoppel/Rhön eine in Niederwerbe am Edersee hinzu.
Es stank gefährlich in Bettenhausen, es stank durchdringend ekelhaft, und man dachte sofort: Wer hier arbeitet, wird sofort krank. Wenn Mutter und Sohn nach Kassel zu Besuch kamen und der Wind entsprechend stand, redeten sie stets voller Bedauern von Vater, dass er in dieser Wolke die Bücher der Spinnfaser prüfen müsse, tagelang.
Es waren die Abgase von Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff, die bei der Produktion von Zellwolle frei werden. Vier Jahre später legte sich die Spinnfaser eine Gasreinigungsanlage zu, die den Gestank in Bettenhausen, der bisweilen die ganze Stadt Kassel belästigte, verminderte und den Schwefelkohlenstoff in großen Mengen zu recyceln erlaubte.
Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik kündigt sich an. Rasch wurde bei der Industrieproduktion wieder das Vorkriegsniveau erreicht; der Betrieb umsorgt seine Belegschaft medizinisch (Werksarzt), mit Erholungsangeboten (eigene Ferienheime), technisch die Arbeitsbedingungen verbessernd (Maßnahmen gegen den Gestank).
Es drängt sich die Erinnerung auf, dass Schwefel der Gestank der Hölle ist. Es drängt sich als Allegorese auf: 1951 sind wir der Hölle erst sechs Jahre entronnen, aber ihr Gestank dringt weiterhin durch, kräftig, süß, ekelhaft. Wozu brauchte man sie denn, die Unmassen Zellwolle, in der Vorkriegs- und Kriegszeit? Zum Auspolstern der Hölle, damit man draußen die Schreie nicht hört. Jetzt, in der Nachkriegszeit, herrscht Stille und Frieden, aber der Gestank der Hölle bleibt und beherrscht Bettenhausen, die Stadt Kassel, Deutschland. »Etwas, das keine Farbe hat«, wie ein Dichter schrieb, »etwas Zähes, trieft aus den Verstärkerämtern . . .«. 1
1935 begann die Ansiedlung der Spinnfaser in Bettenhausen, Lilienthalstraße. Das Verwaltungsgebäude sowie die Produktionshallen einer ehemaligen Munitionsfabrik fanden neue Verwendung; dann aber der Neubau von Rohrleitungen zur Wasserversorgung, der Neubau von Filteranlagen und einem Filterhaus, eines Wasserturms, eines Flusspumpwerks an der Fulda, der Neubau eines großen Klärbeckens für die Abwässer, eines zweiten Kesselhauses sowie zweier 100 Meter
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