Das Merkbuch
Der Vater, Jahrgang 1893, kleiner Angestellter bei einer großen Wirtschaftsprüfungsfirma, dokumentiert zwischen 1951 und 1973 sein Arbeitsleben in einer Serie von Notizkalendern. Zunächst bleibt rätselhaft, wozu er sie braucht: Um den Vorgesetzten Auskunft über seine Arbeitsorte und -zeiten geben zu können? Um seine Einnahmen und Ausgaben unter Kontrolle zu halten? Oder gar um sich des Aufschwungs zu vergewissern, den die junge Bundesrepublik unverkennbar nimmt?
Und dann wirken sich die Merkbücher des Vaters auch noch als Vorbilder in der Familie aus. Mutter und Sohn beginnen ebenfalls, in Notizkalendern ihren Alltag aufzuschreiben, sogar ausführlicher als der Vater.
Michael Rutschky rekonstruiert anhand der Notizen einer Familie deren Leben in der frühen Bundesrepublik. Doch er liefert mehr: Die Notizen über Zug-abfahrtszeiten, Wocheneinkäufe und Klassenarbeiten ergeben nach und nach nicht nur die Geschichte einer Familie, sondern, im Zusammenhang betrachtet, eine eindrucksvolle und anrührende Geschichte der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik.
Michael Rutschky, geboren 1943, ist freier Autor und arbeitet für Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Er war Redakteur der Zeitschriften Merkur und Transatlantik sowie Herausgeber der Zeitschrift Der Alltag . 1997 erhielt er für sein essayistisches Werk den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste.
Zu seinen bekanntesten Werken gehören Erfahrungshunger. Ein Essay über die siebziger Jahre (1980) und Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte (2004). Rutschky lebt in Berlin.
Sehen Sie ein Interview mit dem Autor kostenlos im Internet unter:
www.zeitzeugen-tv.com/Merkbuch
Michael Rutschky
Das Merkbuch
Eine Vatergeschichte
Suhrkamp Verlag
Impressum
eBook Suhrkamp Verlag 2012
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagfotos: Michael Rutschky, Privatbesitz
978-3-518-76420-6
www.suhrkamp.de
Das Merkbuch
Der Schreibsekretär stammt aus dem Biedermeier. Ein schönes Trumm, dunkel gemasertes Holz, auf Glanz poliert, steht er da.Wenn man die Schreibplatte heraus- und herunterklappt, zeigt sich eine Art Innenarchitektur. Gleichförmige Schubladen rahmen ein offenes Gefach (das wohl für das Schreibzeug reserviert war, Gänsekiele, Federmesser, Tinte, Streusand).
Eine Art Innenhof. Die Bodenplatte schaut vollkommen nichtssagend aus. Dass sie den geheimen Keller kaschiert, der sich über die ganze Breite des Schreibsekretärs erstreckt, muss man wissen: Sehen kann man es nicht.
Es gilt, links die unterste Schublade der Innenarchitektur gänzlich herauszuziehen. Dann kann man einen Stöpsel ertasten, der proper eingepasst ist, damit er die Schublade nicht behindert und also unbemerkbar bleibt. Wenn man ihn entfernt, kann man die Bodenplatte des Innenhofs herausziehen und das Kellergewölbe öffnen.
Es war nicht leer. Es enthielt, sorgfältig geschichtet, eine Sammlung kleiner Bücher ungefähr gleichen Formats. Die Farbe ist vor allem schwarz, es findet sich aber auch Dunkelgrün und Dunkelblau, sogar Rot. Aber vor allem Schwarz.
Was ist das? Ein Monument? Eine Gedenktafel? Ein Grabstein? Ein Grabstein für den unbekannten Zeugen seiner Zeit. Der ohne jede Absicht, die Zeit zu bezeugen, sein Leben dahinbrachte, der anonyme Mann der Menge, die einsam durch die großen Städte treibt . . .
Im Jahre 1951 feiert er seinen 58. Geburtstag. Er lebt in einer kleinen Stadt des westlichen Mitteldeutschlands, die er von Berufs wegen immer wieder verlässt, Reisen nach Kassel und Stuttgart, München und Frankfurt und Bremen, nein, er ist kein Handelsvertreter in Arzneimitteln oder Haushaltswaren oder Versicherungen. Er ist verheiratet, sie haben einen Sohn; 1951 wird die Ehefrau 43, der Sohn acht Jahre alt . . .
1893, also im Wilhelminismus, geboren, ließ sich Vater selbstverständlich von der Überzeugung leiten, dass seine Ehefrau viele Jahre jünger sein müsse, damit er sich auch im fortgeschrittenen Alter noch fortpflanzen, eine Familie gründen könne;
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