Das Moskau-Spiel
durch Schnee und Matsch wälzte. Eblow erkannte die Konturen seines breiten Gesichts mit den großen Augen und den kurz geschnittenen grauen Haaren. Da, wo viele Jahre ein Schnauzer über der Lippe gehangen hatte, war nun glatte Haut, darüber endete eine breite Nase mit großen Löchern. Eblow wusste, er war kein schöner Mann, klein, stämmig, mit einem Bauerngesicht. Aber die Augen, das hatte ihm damals an der Hochschule eine Genossin gesagt, die Augen seien traurig, sentimental. Und das gleiche sein sonst eher unscheinbares Aussehen mehr als aus. So hatte sie es nicht gesagt, aber so hatte er es verstanden.
Jedes Mal, wenn er am Abend auf den Platz hinausschaute und sich sein Spiegelbild mit anbrechender Dunkelheit immer deutlicher ausfüllte, fiel ihm diese Genossin ein. Er wusste nicht mehr richtig, wie sie ausgesehen hatte. Es war eine kurze Affäre gewesen, und auch deshalb hatte er es gut gefunden. Aber sie hatte besser als sonst jemand begriffen, was für ein Mensch er war. Er hatte sich nicht verändert, er hatte schon früher mehr an Russlands Größe als an den Sozialismus geglaubt. Er erinnerte sich mit Grauen an die Zeit der Stagnation, als Breschnew Generalsekretär war und in seinen letzten Jahren in eine Mumie mu tiert zu sein schien. Wie er kaum in der Lage war, vom Blatt abzulesen, dass der Sozialismus unaufhaltsam auf dem Vormarsch sei, die Sowjetunion bereits beginne, den Kommunismus aufzubauen, während es im GUM kein Waschmittel, kein Fleisch, keine Schuhe, keine Fernsehgeräte mehr zu kaufen gab, sondern nur klebriges Brot. Als es den Arbeitern und Bauern ohne behördliche Genehmigung verboten war, zu reisen in dem Land, in dem sie herrschten. Wo sich die Bonzen in Sonderläden versorgten, in denen es alles gab, wo sie die Krüppel des Kriegs aus der Hauptstadt vertrieben hatten, um sich deren Anblick zu ersparen. Das und vieles mehr hatte Eblow nicht vergessen. Und er übersah auch nicht, dass die treuesten Genossen aus jener Zeit, Breschnews Gesundbeter, längst geldgierige Geschäftsleute geworden waren, die Mercedes und Bentley fuhren und sich im Winter in Kitzbühel und im Sommer an der Riviera vergnügten.
Doch profitiert vom Niedergang der Sowjetunion hatte kurioserweise auch er. In den Jahren der Unordnung hatte er einen amerikanischen Agentenring gesprengt und der CIA so beigebracht, dass sie nun keineswegs freie Hand hatte. Das hatte ihn kurz vor dem Ende Gorbatschows die Karriereleiter hochkatapultiert.
Heute hätte er eigentlich Grund gehabt, zufrieden zu sein. Doch er war es nicht. Er fühlte sich wie in den Tagen der Niederlage und wie so oft danach. Der Trübsinn hatte ihn ergriffen, als das große Sowjetreich untergegangen war und mit ihm das Komitee für Staatssicherheit, das KGB . Was halfen da alle Siege im Krieg gegen einen Feind, der immerhin der gleiche geblieben war? Aber der Kampf war nicht zu Ende. Eblow malte sich immer wieder aus, wie sie in Langley triumphiert hatten. We won, hatte der CIA – Stationschef in Moskau ans Hauptquartier telegrafiert, und vielleicht war es für ihn eine besondere Genugtuung gewesen, zu wissen, dass der Verlierer die Siegesmeldung mitlas.
Eblow würde sich bald nach Hause fahren lassen in seine Dreizimmerwohnung im Meschchanskijviertel. Dort würde Ludmilla auf ihn warten wie schon seit fast dreißig Jahren, und sie würden wenig reden, dies undjenes nur, eher um sich zu vergewissern, dass der andere da war. Ludmilla hatte ihn gerettet damals, ohne sie hätte er sich eine Kugel durch den Kopf geschossen mit der Neun-Millimeter-Makarow, die in seinem Tresor lag. Vielleicht würde er es doch noch tun eines Tages. Aber bis dahin hatte er noch etwas zu erledigen. Der erste Schritt war getan.
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Henri Martenthaler saß auf seinem Sessel im fast dunklen Wohnzimmer und schwenkte bedächtig sein Cognacglas. Er hatte gerade den Hörer aufgelegt und überlegte, wie lange er schon nicht mehr mit Theo gesprochen hatte. Der Sohn hatte ihn nur gefragt, ob sie miteinander reden könnten. Dienstlich. Er hatte ernst geklungen, doch entsprach das dem miesen Verhältnis zwischen ihnen, wenn es überhaupt ein Verhältnis gab. Da war kein Platz für Scherze. Aber vielleicht wollte Theo auch nur seine Verlegenheit zügeln. Eigentlich hatten sie nie richtig miteinander gesprochen. Henri hatte keine Kinder gewollt, und als doch ein Sohn geboren wurde, führte er es auf die Heimtücke seiner Frau zurück, an der er sich nun aber nicht mehr rächen
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