Das Moskau-Spiel
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Prolog
Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow saß mit halb geschlossenen Lidern auf seinem Stuhl und sog den Rauch seiner Zigarette ein. Er hielt den Rauch lange in seiner Lunge, dann atmete er stoßweise, aber gemächlich aus und setzte Wölkchen in die Luft. Er verfolgte sie mit seinen großen blaugrauen Augen. Petrow hatte einen hageren, länglichen, fast rechteckigen Schädel und lockige dunkelbraune Haare. Ein Hauch von Melancholie umgebe ihn, hatte eine Genossin einmal gesagt. Seine Soldaten im Bunker 15 von Serpuchow südlich Moskaus kannten ihn als einen Offizier, der nicht viel redete und dem es lächerlich erschienen wäre, markige Sprüche abzusondern, wie das so viele andere Offiziere der ruhmreichen Sowjetarmee taten.
Seine Soldaten behelligten ihn nicht, wenn er in der Nacht auf der zweiten Ebene des dunklen Kontrollraums auf seinem Stuhl zu dösen schien. In Wahrheit war er wie eine Katze, die im Dämmerschlaf jedes Geräusch hörte und jede Bewegung wahrnahm. Im Notfall würde Petrow in Sekundenbruchteilen tun, was die von ihm selbst verfasste Vorschrift einem diensthabenden Offizier in einem Bunker des sowjetischen Raketenfrühwarnsystems befahl. Es sollte Moskau so schnell wie möglich vor einem amerikanischen Atomraketenangriff warnen, um dem Generalsekretär Andropow und dem Generalstab Zeit zum Gegenschlag zu geben. Fünfundzwanzig Minuten. In diesem Bunker liefen die Datenströme der Aufklärungssatelliten zusammen, der Augen des sowjetischen Weltreichs.
»Wenn wir versagen, wird die Heimat vernichtet und der Feind überlebt«, hatte Petrow seinen Soldaten erklärt, als er vor gut zwei Jahren nach Serpuchow versetzt worden war. »Wenn wir nicht versagen, wird unsere Heimat vernichtet und der Feind auch.« Er erinnerte sich noch gut an die verdutzten Gesichter seiner Untergebenen. Aber wenn die Amerikaner die Dinge ähnlich sahen, würden sie nicht versuchen, einen Atomkrieg zu gewinnen. Doch genau mit dieser Verlockung spielten manche Experten und Politiker im Westen. Ganz öffentlich, und wer wusste, was sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit besprachen? Das schrieb die Presse, das meldeten Auslandsberichterstatter im Fernsehen. Für den neuen amerikanischen Präsidenten war die Sowjetunion das Reich des Bösen. Das Böse aber muss vernichtet werden. Immer und überall. Deshalb hatte die sowjetische Militärführung die Offiziere der Raketenstreitkräfte, der Luftwaffe und der Überwachungsstationen zu größter Wachsamkeit vergattert. Der Feind plane einen Angriff. Er fühle sich überlegen. Er wittere seine Chance. Für ihn sei die Sowjetunion eine historische Fehlentwicklung, die er berichtigen wolle. Wie der General bei der letzten Inspektion hatte durchblicken lassen, sammelten die Kundschafter an der unsichtbaren Front überall im Westen Informationen, die bewiesen, was die Moskauer Führung befürchtete.
Petrow ließ sich nicht viel vormachen, aber dass die Stimmung in der politischen und militärischen Führung umgeschlagen war, dass es nicht nur Propagandageschwätz über den stets aggressiven US – Imperialismus war wie sonst, sondern Angst, wirkliche Angst, das spürte er. Er hatte ein Gefühl für Stimmungen. Die waberten von der Führung hinunter in die Partei- und Staatsorgane wie Nebelschwaden.
Meistens durchschaute er die Propaganda, dieses Gespinst aus Lügen, Wahrheiten und Halbwahrheiten, mit dem man den Feind bearbeitete und das eigene Volk anspornte. An allen Unbilden im Sowjetla ger war der Feind schuld. Wenn sich irgendwo ein Volk erhob gegen die Parteiherrschaft, wie in der DDR , Un garn, Polen, der Tschechoslowakei, so steckte der Feind dahinter. Natürlich, man musste den Feind unter Feuer halten, man musste ihn einschüchtern, man musste vielleicht auch mal die Panzer rollen lassen, doch Petrow hatte längst begriffen, dass es sich einige ganz oben etwas zu leicht machten.
Aber diesmal war es ernst.
Manchen Tag schlief er schlecht. Er träumte vom eigenen Versagen, wie er die blinkenden Zeichen auf den Kontrollmonitoren falsch deutete, wie die Trümmer von Moskau in einer Feuersbrunst versanken und zusammengeschmolzen wurden, zuletzt der Turm der Lomonossow-Universität. Seltsamerweise. Nicht weniger erschreckend erschien ihm die Vorstellung, dass ein einziger Raketensprengkopf, der über Moskau explodierte, genügen könnte, sämtliche Befehlsstrukturen lahmzulegen und das Land wehrlos zu machen. Der elektromagnetische Impuls, jenes so
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