Das Moskau-Spiel
Frontschwein, er hatte schon in den Achtzigerjahren gegen die Sowjetunion gearbeitet. Ein Einzelgänger, nicht verheiratet, keine Freundin, keinen Freund, nur Kollegen. Ein kleiner, untersetzter Mann mit grotesk kurzen Beinen und langen Armen. Auf dem schmächtigen Oberkörper ein runder Schädel mit Stirnglatze, immer leicht gerötete Hautfarbe, schmale Lippen und eine Stimme, die meist gemütlich klang wie die eines ewige Harmonie einfordernden Spießers, welche aber auch die Luft zerschneiden konnte. Dann war sie leise, gefährlich leise, scharf, Wort für Wort fast betonungslos und wie gedruckt. Eine Intelligenzbestie. Er lebte in einer Einzimmerwohnung in Pullach, gleich um die Ecke, wenn er in Deutschland war. Falls er nicht arbeitete, das kam selten vor, spielte er Schach gegen sich selbst oder einen Computer.
Martenthaler kannte Scheffer nicht gut, jedenfalls schlechter als die Legenden, die über den alten Mann erzählt wurden aus der guten alten Zeit, als der Feind wirklich ein Feind war. Aber was Theo wusste und in Moskau mit ihm erlebt hatte, reichte ihm, um den Mann zu achten, dem es gelungen war, einen Maulwurf in der Ersten Hauptverwaltung des KGB einzubauen. Er hieß Michail Kornilow. Die Informationen sprudelten bis zum November 1986, dann war die Quelle verstopft. Jeder kannte den Weg, den Kornilow gehen musste: Geheim prozess im Lefortowogefängnis, Urteil, Genickschuss im Keller. Scheffer hatte unter dem Verlust gelitten, er fühlte sich verantwortlich, suchte nach einem Verräter, auch weil ihn der vom unausgesprochenen Vorwurf entlasten würde, ein Fehler bei einem Treff, beim Informationsaustausch über einen toten Briefkasten oder Nach lässigkeit beim Abschütteln der KGB -Überwacher hätte die Niederlage bewirkt. Es nutzte nichts, dass Scheffer sich immer wieder einredete, sein Maulwurf habe das Risiko gekannt, besser als jeder BND – Agentenführer, denn Kornilow hatte schließlich vierzehn Jahre für das KGB gearbeitet. Natürlich wusste jeder, der mit dieser Sache betraut war, dass Scheffer ein Musterprofi war, der sich doppelt absicherte und dem es gelang, sich dem geschicktesten Verfolger zu entziehen. Sogar in Moskau. Niemand im Dienst glaubte, dass Scheffer einen Fehler gemacht hatte. Jeder andere, der nicht. Aber der Zweifel konnte jeden fertigmachen, auch den Unschuldigsten.
Nach dem Verlust des Maulwurfs wurde Scheffer noch vorsichtiger, geradezu übervorsichtig. Die Arbeit stockte. Die Nerven verließen ihn, ohne dass es auf den ersten Blick erkennbar gewesen wäre. Aber man hatte ihn trinken gesehen. Nicht nur einmal. Bald wurde er aus Moskau abgezogen und bekam einen Bürojob in Pullach. Aber vom ersten Tag an drängte er darauf, nach Moskau zurückzukehren. Er konnte es nicht auf sich sitzen lassen, dass er sich als Versager fühlte und nach Kornilows Verhaftung tatsächlich abgebaut hatte. Er musste anderen nichts beweisen, aber sich. Er wollte sich eine zweite Chance geben.
Er sagte es nicht, aber er hielt sich nach wie vor für den besten Agentenführer in Russland, und er hatte recht. Scheffer der Fuchs kannte sich so gut in Moskau aus wie sonst niemand. Er sprach fließend Russisch, und wenn er es für nötig hielt, fluchte er wie ein Russe. Erst lange nach dem Untergang der Sowjetunion gab die BND – Führung endlich dem Drängen nach. Nun schien es nicht mehr so gefährlich in Moskau. Neue Zeiten. Das KGB war aufgelöst, die Nachfolgedienste waren mächtig, aber nicht mehr allmächtig. Und der alte Mann ging zurück nach Russland, drei Jahre vor der Pensionierung. Das war man ihm schuldig. Und in diesem Fall beglich der Dienst seine Schuld, wo er doch so viele andere hatte hängen lassen. Scheffer kannte noch einige Leute, die vom KGB in den neuen russischen Inlandsgeheimdienst FSB und den Auslandsgeheimdienst SWR gegangen waren. Kollegen, wenn man so wollte, die sich achteten, wenn sie es verdienten.
Jetzt lag er im Leichensaal der Moskauer Rechtsmedizin.
»Er wollte einen toten Briefkasten leeren«, sagteKlein. Er zündete sich eine Zigarette an und trotzte so dem jüngst verhängten Rauchverbot.
»Er hatte einen aufgetan im FSB , einen alten KGB – Oberst, den er von früher kannte, Deckname Gold. Zwanzigtausend Euro gegen eine Speicherkarte. Und dann vielleicht mehr.«
»Was für eine Speicherkarte?«, fragte Theo.
»Dokumente, abfotografiert. Russische Wirtschaftsspionage im Westen, vor allem bei uns. Atomtechnik, Flugzeugindustrie, das Übliche.
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