Das Mysterium der Zeit
bevor sie auf die Wissenschaft angewendet wird, den aristotelischen Lehren gemäß als sicher oder wenigstens wahrscheinlich gelten muss und der Bibel nicht widerspricht. Wieder einmal soll das Dogma triumphieren.
»Luther hat den Gewehrschuss abgegeben, der die Sinneswahrnehmung von der Philosophie und Theologie abhängig machen und Jahrhunderte vorsichtiger, weiser wissenschaftlicher Forschung vernichten wird. Die römische Kirche ist gezwungen, sich anzupassen.«
»Das sind starke Worte. Ich glaube nicht, dass es etwas gibt, was einen Papst zwingen könnte, von seinem eigenen Weg in Sachen göttlicher Dinge abzugehen«, wandte ich ein.
»Das erscheint Euch absurd? Doch es ist so«, sagte Hardouin.
Am 24. Mai 1543 stirbt Kopernikus, als sein Hauptwerk gerade in Druck gegeben wird. Im Vorwort des Papst Paul III. gewidmeten Werks sagt Kopernikus, anfänglich habe er die Hypothese von der Bewegung der Erde wie eine irrige Vermutung behandelt, dann aber festgestellt, dass sie die Erscheinungen noch besser als die ptolemäische Theorie zu retten vermochte, und dass sich mit ihrer Hilfe noch genauere Berechnungstafeln erarbeiten ließen. Doch mit dieser Aussage gab er sich nicht zufrieden: Kopernikus wollte die Wahrheit dieser Hypothese beweisen und glaubte, dass es ihm gelungen sei.
»Wohlgemerkt: der Papst fand nichts Frevelhaftes an dieser wissenschaftlichen Haltung, obwohl Kopernikus Idee in offenem Widerspruch zur Bibel stand.«
|498| Dem Papst war natürlich nicht entgangen, dass Kopernikus sich irrte, als er behauptete, die Wirklichkeit seiner Theorie bewiesen zu haben, erklärte Hardouin. Als Kenner der Lehren von Hipparchos, Thomas von Aquin und Agostino Nifo wusste Paul III., dass man für den Beweis der Übereinstimmung einer astronomischen Hypothese mit der Natur der Dinge nicht nur zeigen musste, dass sie ausreicht, die Erscheinungen zu retten, sondern außerdem auch noch beweisen musste, dass dieselbe Hypothese, verändert man sie oder lässt sie gar fallen, sofort mit den Erscheinungen in Widerspruch gerät. Trotzdem hatte der Papst keine Einwände gegen Kopernikus und klagte ihn auch nicht der Gotteslästerung an.
»Er vermied schlicht und einfach, öffentlich Stellung zu nehmen«, fasste Hardouin zusammen. »Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, Kopernikus’ Werk auf den Index zu setzen.«
Während der bretonische Buchhändler sprach, marschierten wir im Schritt eines geschlagenen Heeres. Barbara hatte ihre Kräfte fast wiedererlangt, oder besser gesagt, sie war von den nächtlichen Strapazen ebenso erschöpft wie wir. Wir hatten den Weg am Saum des Kliffs verlassen und gingen nun über den Pfad, der durch den Wald zur Piana dei Morti führte.
In Deutschland, fuhr Hardouin fort, entwickelten die Dinge sich ganz anders. Kopernikus’ Buch erhielt eine anonyme Vorrede an den Leser, in der die ptolemäische Linie vertreten wurde: Astronomische Hypothesen müssen nicht wahr, noch nicht einmal wahrscheinlich sein, es genügt, wenn die Berechnungen, zu denen sie führen, mit den Beobachtungen übereinstimmen. Kein Astronom stellt Hypothesen auf, um andere zu überzeugen, dass die Wirklichkeit sich ihnen gemäß verhält, er will lediglich über exakte Berechnungen verfügen.
Der Verfasser der anonymen Vorrede war der Humanist Andreas Osiander. In Deutschland und Nordeuropa bildeten Gelehrte und Wissenschaftler, die diese Linie vertraten, zu der Zeit eine starke Strömung. Unter ihnen waren der berühmte holländische Astronom Gemma Frisius, die Gelehrtengruppe an der Universität Wittenberg, zu der Ariel Bicard und Caspar Peucer, die Schüler von Reinhold und Melanchthon, gehörten, weiter die Schulen in Nürnberg und Basel, die von Schreckenfuchs und Vurstisius geleitet wurden. Alle stimmten mit der alten ptolemäischen Schule überein. Auch die Italiener dachten |499| so: Bei Piccolomini, Cesalpino und Giuntini findet man exakt dieselben Ideen wie bei Albert von Sachsen und Thomas von Aquin. Giovanni Battista Benedetti bewunderte Kopernikus wegen der Berechnungen, die er zur Rettung der Himmelserscheinungen ersann, war aber sofort bereit einzuräumen, dass das heliozentrische Modell nicht das einzig Mögliche sein konnte.
»Die Zeitmessung, nur das ist der Menschheit wichtig, heute wie gestern«, erklärte Hardouin. »Und um die Zeit zu messen, Vergangenheit oder Zukunft, gibt es nur ein universales Instrument: die Beobachtung des Himmels. Darum brauchen wir immer vollständigere, genauere
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