Das Nazaret-Projekt
zweitens gibt es in Wahrheit sowieso nur ein einziges, allumfassendes Bewusstsein, das die gesamte materielle Existenz begründet und innerhalb dessen sie sich manifestiert. Welchen Sinn sollte also ein höheres Bewusstsein überhaupt haben und wie sollte das dann aussehen? Es gibt nichts außerhalb Gottes! Der Mensch kann nur eine folgenschwere Wahl treffen, nämlich entweder an dem festzuhalten, was er fälschlicher Weise für sein individuelles Bewusstsein hält und das nichts weiter ist als sein übergewichtiges Ego, das höchst diffuse und wandelbare ›ICH‹, das aus dem zufälligen, mechanischen Schattenspiel seiner fehlgeleiteten Psyche ständig in neuer Form entsteht, oder aber er bringt dieses hartnäckige, illusorische ›ICH‹ durch bewusste und langwierige Anstrengungen dazu, bescheiden zur Seite zu treten und dem wirklich einzigen und wahren Bewusstsein Platz zu machen. Das ist dann die höchste Stufe der Transformation, die ein einzelner Mensch auf Erden erreichen kann! Nur dieser Schritt bringt absolute Freiheit, nämlich Freiheit von der Illusion des Leidens und Freiheit im Wissen!
Nur selbstgerecht herum zu sitzen, konfuses Zeug zu erzählen und spirituelle oder esoterische Lektüre zu verschlingen, schöne Gedanken von Liebe, Engeln und fliegenden Untertassen zu hegen, von höherem Bewusstsein und übersinnlichen Kräften zu schwärmen oder eifrig in irgendeine Kirche zu rennen und sich davon irgendeine Veränderung von außen oder gar praktischen Nutzen zu erhoffen, ist nichts als bequeme Selbsthypnose oder subtilste Heuchelei, die nur einem einzigen Zweck dient, nämlich der Bestätigung seiner eigenen wirren Konzepte, Glaubenssysteme und Erwartungshaltungen. In unserer Tradition heißt so eine Haltung deshalb schlicht und einfach ›Der rote Tod‹! Von spiritueller Arbeit und deren drei Linien wollen diese Menschen verständlicherweise am liebsten erst gar nichts hören, weil ihnen ihre Bequemlichkeit näher steht als der Wunsch nach Wahrheit! Es gibt nichts umsonst im ganzen Kosmos, absolut nichts, was man sich einfach nehmen könnte, ohne im Gegenzug auch nur das Geringste dafür zu geben. Es gilt immer nur das Prinzip der gegenseitigen Selbsterhaltung alles Existierenden, sei es nun bewusst oder unbewusst! Die bewusste Evolution wird übrigens immer nur von relativ wenigen Menschen getragen, gemäß der Wahrheit, dass Gott in der ganzen Natur recht verschwenderisch mit Saatgut umgeht, das niemals keimen und Früchte tragen wird.
So, das war eine geballte Ladung ernüchternder, uralter, spiritueller Wahrheiten, die ich dir da an den Kopf geworfen habe! Wirklich verstehen wirst Du das Meiste allerdings erst viel später, aber mach Dir deshalb vorläufig keine weiteren Gedanken.
Also, heraus mit der Sprache! Was ist es, dass ein gewisser Reverend Telly Suntide am Besten kann, abgesehen natürlich von der zweifelhaften Fähigkeit, heilig auszusehen, tausende von Leuten schwindlig zu reden und sie mit allerlei spirituellem Quatsch vollzustopfen?«
Telly musste trotz seiner niedergedrückten Stimmung laut lachen. »Was ich am Besten kann? Lieder schreiben, singen und Gitarre spielen!«
»Na bitte! Warum tust Du es dann nicht mehr?«
»Ich fürchte, mir wird sowieso nicht viel Anderes mehr zu tun übrig bleiben. Ich habe zwar nicht einmal zehn Prozent von dem verstanden, was Du mir bis jetzt alles zu erklären versucht hast, aber eines ist mir dabei immer klarer geworden: Ohne die Hilfe eines echten Lehrers kann ein Mensch so gut wie Nichts erreichen. Ich will lernen und ich will wissen – lernen, wie man mit allen Sinnen betet und verstehen, was ein Gebet wirklich ist! Das bringt mich auch gleich zu meiner nächsten Frage, die kürzlich in mir aufgestiegen ist. Was ist der wichtigste und zentrale Punkt, der von mir verstanden werden muss, wenn ich wirklich wissen will? Kannst Du mir auch noch diese Frage beantworten?«
Hieronymus richtete wieder den seltsamen, wässrigen Blick seiner gütigen Augen auf Telly. »Eine vollständige Antwort auf Deine Frage wirst Du in Kürze direkt von dem Lehrer meines Lehrers erhalten. Hab nur ein klein wenig Geduld! Bis es so weit ist, gebe ich Dir einstweilen eine kleine Nuss zu knacken, die im Grunde auch schon die ganze Antwort enthält: LIEBE VERANKERT WISSEN!«
Mit diesen Worten erhob sich Meyrink und machte Anstalten, das Zugabteil zu verlassen. »Tee oder lieber Kaffee?«, fragte er dann noch schelmisch grinsend, bevor er sich auf den Weg zum
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