Das Nazaret-Projekt
die Annehmlichkeiten seines Lebens als reicher und berühmter Mann hatten plötzlich allen Glanz verloren und erschienen ihm hohl und bedeutungslos. Aber was sollte er nun mit seinem weiteren Leben anfangen? In Sack und Asche in die Wüste oder auf einen Berg ziehen, vierzig Tage lang fasten und Gott unablässig um Vergebung bitten? Hieronymus atmete plötzlich hörbar aus und räusperte sich beinahe ein wenig übertrieben laut.
»Sentimentalität ist der größte Feind der Liebe. Sie ist die subtilste Form des niederen Selbst, denn sie hält die Menschen in der scheinbaren Dualität gefangen! Wenn Du wissen willst, wer Du wirklich bist, wirst Du alles aufgeben müssen, was Du zu sein meinst! Auch wenn Du nun noch so leidenschaftlich eine Antwort suchst, erwarte sie nicht, wenn Du es willst. Du wirst sie dann erhalten, wenn Du sie wirklich brauchst! Bis zum richtigen Zeitpunkt kann nichts geschehen – das ist übrigens eine der inneren Bedeutungen von Geduld!«
Hieronymus hatte seine Zeitung beiseite gelegt und betrachtete nun ebenfalls die vorbeiziehende Landschaft. Telly konnte in den Worten des alten Weisheitslehrers allerdings vorerst nur wenig Trost finden. In seinem Inneren wollte beinahe ein Gefühl der Resignation aufsteigen.
»Es scheint wohl mein Schicksal zu sein, zu einem Paradebeispiel für den tiefen Fall des Hochmuts zu werden. Ich glaube ohnehin nicht, dass ein Mensch seiner Bestimmung entgehen kann, egal, was er auch dagegen unternehmen mag!«
»Welcher Bestimmung denn?«, fragte Hieronymus und machte ein ernstes Gesicht. »Das Leben der allermeisten Menschen wird einzig und allein von den Gesetzen des Zufalls, also von außen bestimmt. Das ist ihr einziges Schicksal! Seine wahre Bestimmung in dieser Welt muss ein Mensch erst entdecken. Wer an das Schicksal glaubt, der ist unterwegs eingeschlafen und wer mit dem Schicksal schläft, der schläft mit einem Dieb! Also finde heraus, was Du am Besten kannst und verwirkliche in Demut und Dankbarkeit Deine Fähigkeiten. Das wäre zumindest ein guter Anfang, denn Dankbarkeit ist der Schlüssel zum Willen!«
Telly Suntide konnte wohl die Bedeutungsschwere dieser Worte fühlen, aber sein Geist verstand sie nicht. Wie kam es nur, dass diese in beiläufigem Plauderton gesprochenen Worte des Alten, die manchmal fast den Charakter von Kalendersprüchen zu haben schienen, trotzdem die innere Kraft besaßen, bestimmte Saiten in ihm zum Schwingen zu bringen; Saiten einer unendlich fein gestimmten Äolsharfe, die er seit den fernen und glücklichen Tagen seiner Kindheit nicht mehr hatte klingen hören? Telly fasste all seinen Mut zusammen, um dem Lehrer endlich die Frage aller Fragen zu stellen, der alle Menschen im Laufe ihres Lebens wenigstens einmal begegnen.
»Was ist der Sinn des Lebens auf Erden?«
Hieronymus lachte erfreut auf und klatschte in die Hände. »Das ist endlich einmal eine vernünftige Frage! Nun, darauf gibt es sowohl eine sehr kurze als auch eine sehr, sehr ausführliche Antwort, allerdings wirst Du dich erst einmal mit der Kurzform begnügen müssen, für weiterführende Erklärungen ist die Zeit noch nicht reif und Du auch nicht! Denk daran, was ich Dir über die innere Bedeutung von Geduld gesagt habe!
Also, es gibt sogenannte Harmoniegesetze, denen die gesamte Schöpfung Gottes unterliegt. Ein großer Teil davon folgt diesen Gesetzen automatisch; das ist der Prozess, der uns als organische Evolution begegnet, der sich endlos wiederholt und den wir beobachten können. Dieser Prozess ist aber an bestimmten Punkten regelmäßig beendet und kehrt sich dann um. Er kann sich nur fortsetzen, wenn dort gleichzeitig die bewusste Evolution beginnt, die für die notwendige, zusätzliche Energie sorgt. Einzig zu diesem Zweck hat Gott den Menschen erschaffen, er ist der Makrokosmos, das letzte Glied einer wundersamen Transformationskette und damit das einzige Bindeglied zwischen dieser und den höheren Welten. Er ist eigentlich ein komplizierter, kosmischer Apparat zur Transformation feinstofflicher Energien und seine Verantwortung und Bedeutung ist enorm! Bewusste Evolution bedeutet aber immer einen mühsamen Lernprozess und erfordert außerdem bewusste Anstrengungen und Opfer, denn ›objektives Bewusstsein‹ kann niemals unbewusst entstehen. An ein sogenanntes höheres Bewusstsein zu glauben ist allerdings bestenfalls esoterischer Unsinn, denn erstens entspringt dieser Wunsch ausschließlich der spirituellen Gier, also dem niederen Selbst, und
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