Das Nazaret-Projekt
Katzmeier verharrte eine ganze Weile ebenfalls in respektvollem Schweigen. Leise trat er an das hohe Fenster, hielt seine knochigen Hände hinter seinem Rücken gekreuzt und blickte mit sorgenvoller Miene hinaus auf die gepflegten Gärten des Vatikan. Tausend Gedanken stürmten auf ihn ein, geradeso, als kämen sie von außerhalb seines Gehirns, als wären sie nicht von ihm: ›Die wahre Bedrohung kommt wie immer aus den eigenen Reihen! Andererseits – was könnte an dieser Geschichte schon dran sein, außer einer Menge aufgeregter Publizität, die sich ein paar verrückte Fundamentalisten auf diese Weise verschaffen? Der Heilige Stuhl sollte auf eine öffentliche Stellungnahme zunächst verzichten und erst einmal möglichst lautlos weitere Informationen einholen.‹
Ägidius Katzmeier war ein Altphilologe, dessen Welt- und Menschenbild nicht unbedingt als modern zu bezeichnen war. Die Gentechnik jedenfalls hatte er eher als wissenschaftlichen Irrweg denn als ein Werk des Teufels betrachtet, an dessen Existenz er – im Gegensatz zu seinem höchsten Vorgesetzten – auch noch nie so recht hatte glauben wollen.
Aber hatte er sich überhaupt im Laufe der letzten fünfzehn Jahre ernsthaft irgendwelchen persönlichen Glaubensfragen gestellt?
Die Glocke der Sixtinischen Kapelle rief zur Abendandacht. Das vertraute Geläute schien die eingesunkene, bis dahin reglose Gestalt des greisen Pontifex mit neuem Leben zu erfüllen. Seine Schultern strafften sich und die senkrechte Falte auf seiner Stirn grub sich noch ein wenig tiefer ein.
»Mein lieber Katzmeier, was sollen wir von dieser Geschichte halten? Das können doch nur Verrückte sein, nicht wahr? Diesem Unsinn muss sofort ein Ende gemacht werden, ganz egal wie!«
Ägidius wandte sich vom Fenster ab. Er war einigermaßen erstaunt über den harschen, fast giftigen Ton des Papstes.
»Selbstverständlich, eure Heiligkeit. Das ist eine unerhörte Provokation, die wir nicht dulden können. Aber wir sollten nichts überstürzen, solange wir keine weiteren Informationen besitzen.«
Der Papst griff ächzend und mit zittriger Hand nach einem Glas Wasser, um eine Schmerztablette hinunter zu spülen, die er schon seit geraumer Zeit zwischen den Fingern gehalten hatte und die deshalb schon leicht zu zerbröseln begann. Er verschüttete etwas Wasser auf seine Soutane und stellte das Glas ziemlich unsanft auf das Beistelltischchen zurück. Dann hob er trotz seines steifen Nackens den Kopf und blinzelte mit listigen Augen seinem Sekretär ins Gesicht.
»Äh, sagen Sie, mein lieber Katzmeier, wie steht es denn eigentlich mit Ihrem persönlichen Glauben an Wunder, an religiös begründete Stigmata und dergleichen? Halten Sie das Turiner Grabtuch tatsächlich für echt?«
Ägidius hatte zwar mit dieser Frage gerechnet, aber nicht damit, dass sie auf der Prioritätenliste seines Chefs ganz obenan stehen würde. Er war ein wenig überrascht und fühlte sich eigentlich außer Stande, eine eindeutige Antwort zu geben. Ließe er sich dazu hinreißen, einfach spontan aus dem Bauch heraus zu antworten, so müsste er unumwunden zugeben, dass es ihm mittlerweile leichter falle, an die Echtheit jenes Grabtuches zu glauben, als den Anspruch und die Legitimation des Papstes, Gottes alleiniger Stellvertreter auf Erden zu sein. Andererseits hatte er seinen Rang und seine Stellung nicht unbedingt seiner Glaubensstärke zu verdanken, sondern vor allem seinem Pragmatismus, seiner Loyalität, seinem Organisationstalent und nicht zuletzt seinem diplomatischen Geschick. Natürlich wusste das auch der heilige Vater.
»Nun, Eure Heiligkeit, es ist nicht meine Aufgabe, solche Dinge zu beurteilen. Zweifellos geschehen immer wieder Wunder, aber mit Verlaub gesagt, sie scheinen sich nicht allein in der katholischen Welt zu ereignen!«
Bei den Worten seines Sekretärs schien sich die Schmerzfalte des höchsten katholischen Priesters noch ein wenig tiefer in dessen Stirn einzugraben. Katzmeier beeilte sich deshalb, weiterzusprechen: »Ich bin allerdings der Überzeugung, heiliger Vater, dass die wichtigere Frage wohl lauten müsste, ob denn so ein Vorhaben praktisch überhaupt durchführbar ist! Angenommen, dieses Grabtuch ist wirklich echt – lassen sich dann nach zweitausend Jahren tatsächlich noch brauchbare menschliche Gensequenzen isolieren?«
Zur selben Zeit kam ihm der fast ketzerische Gedanke, dass Jesus vielleicht überhaupt keine menschlichen Gene besessen haben könnte. Zu seiner
Weitere Kostenlose Bücher