Das Nazaret-Projekt
Genesis I
Die Finsternis und das Licht umarmten sich in vollständiger Harmonie, hoben sich ge genseitig auf und feierten Hochzeit durch Transformation in den Zustand des Nichtseins, der nur mehr aus reiner und unbegrenzter Potentialität bestand. Raum und Zeit, Anfang und Ende allen Seins, verborgen in einem ewigen und einzigen Ruhen. Kein Drehen und Kreiseln, kein Schwingen und Vibrieren und dennoch so etwas wie die Ahnung des Klanges endlos ungezählter Möglichkeiten.
Nicht verwirklichte Möglichkeiten besitzen die Eigenschaft, etwas aus sich selbst heraus zu erzeugen, und dieses Etwas ist reine Sehnsucht, auch Wunsch genannt. Ein Wunsch ist ein höchst universeller Impuls, die Grundlage der Kreativität.
Gott war ein verborgener Schatz, der sich danach sehnte, erkannt zu werden.
Das allumfassende Sein, bisher ohne jedes Bedürfnis sich selbst genügend, identitätslos und ohne Eigenschaften, ruhend in ewigem Gleichgewicht im Schoße des Nirgendwo, unterlag plötzlich einer Anomalie – einem winzigen Ungleichgewicht, das die Geburt eines ebenso winzigen Punktes ohne jegliche Ausdehnung zur Folge hatte, beschaffen aus dem reinem Licht des Bewusstseins.
Der erste Funke der Existenz begann auf Grund gegenseitiger Anziehungs- und Abstoßungskräfte die Nichtexistenz in einem irrwitzigen Tanz zu umkreisen. Ein Tanz, dessen Geschwindigkeit auf jeder möglichen Kreisbahn sich bis ins Unendliche steigerte, weil die Zeit noch nicht geboren war. Als Resultat ergab es sich, dass der Funke an jedmöglichem Punkte seiner Bahnen gleichzeitig vorhanden war und somit den ersten Körper oder Raum formte: Eine Kugelsphäre, welche den zentralen Schwerpunkt der Nichtexistenz umhüllend verbarg und diese dadurch mit Bedeutsamkeit erfüllte.
Diese Bedeutsamkeit war die Geburt der Liebe. Die Schaffung der Sphäre stellte außerdem zugleich die Überwindung des ersten Halbtonschrittes innerhalb der absteigende Primär-Oktave des Schöpfungsstrahles dar.
Gott hatte den ersten Schritt zur Erlangung der vollständigen Erkenntnis seiner Selbst unternommen. Er unterwarf sich dafür den Regeln eines Spieles, das er einzig zu diesem Zweck erschaffen hatte.
Tsunami
Der Nachrichten-Sprecher des italienischen TV-Senders RAIUNO blickte emoti onslos und gut frisiert wie immer in die Kamera und verlas die neuesten Meldungen des Tages.
»Unter bisher ungeklärten Umständen wurde heute in den frühen Morgenstunden von unbekannten Tätern das angebliche Grabtuch Jesu Christi aus dem Dom von Turin gestohlen, eine der bekanntesten Reliquien der katholischen Kirche. Nur wenige Stunden nach der Tat erhielten die wichtigsten Nachrichtenagenturen der Welt ein ungewöhnliches Bekennerschreiben. Darin fordert eine christlich-fundamentalistische Gruppierung die Veröffentlichung folgender Botschaft, andernfalls werde man nach einer Frist von vierundzwanzig Stunden die Reliquie vollständig vernichten.«
Dann wurde ein Archivbild des berühmten Grabtuches gezeigt und die Tonaufnahme eingespielt.
»Christen dieser Welt, freuet und fürchtet euch zugleich, denn Jesus Christus, unser Herr, wird zurückkehren, um zu richten und zu herrschen hienieden als wahrer König. Gehet hin und tuet Buße, denn der Tag des Herrn ist nahe! Es war unsere heilige Pflicht, das unschätzbare Erbe der Gene des Herrn Jesus Christus zu retten. Wir haben zu diesem Zweck das Turiner Grabtuch sichergestellt und mit Gottes Hilfe ist es uns gelungen, eine vollständige Gensequenz aus dem Gewebe zu isolieren. Mit Freuden erwarten wir nun die prophezeite Wiedergeburt des Herrn als Menschensohn, der die Welt vor Untergang und Verdammnis erretten wird. Halleluja – Gepriesen sei Gott, der allmächtige Herr!«
Der päpstliche Nuntius Ägidius Katzmeier erhob sich langsam und fast schwerfällig aus dem Polstersessel im Arbeitszimmer des Papstes, schritt quer über den persischen Seidenteppich zu dem TV-Bildprojektor und schaltete das Gerät mit unsicherer Hand aus. Der heilige Vater saß völlig regungslos und starrte in tiefer Nachdenklichkeit auf die silberfarbene, mit einem Barockrahmen eingefasste Projektionsfläche.
Vielleicht dachte er in diesem Augenblick ja auch an gar nichts und war einfach nur geistig abwesend, so wie alte Leute das gelegentlich zu tun pflegen. Auf der Stirn seiner Heiligkeit war in Fortsetzung der Nasenwurzel eine tiefe, senkrechte Falte erschienen; für Eingeweihte ein untrügliches Zeichen, dass der Pontifex wieder unter Schmerzen litt.
Kardinal
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