Das Orakel des Todes
Kapitel I
Zum ersten Mal hörte ich während meines Amtsjahrs als Praetor von dem Orakel der Toten. Ich war Praetor pere-grinus, reiste in ganz Italia umher und verhandelte die Gerichtsfälle, in die Ausländer involviert waren. Es war eine überaus angenehme Art, ein Amtsjahr zu verbringen, die mir vor allem erlaubte, mich außerhalb Roms aufzuhalten, wo sich die Dinge in jenem Jahr zunehmend hässlich entwickelten. Einen Großteil des Jahres verbrachte ich in und um Baiae, und zwar zum einen, weil mir in der Nähe eine Villa zur Verfügung stand, zum anderen, weil Baiae eine sehr angenehme Stadt ist, und ich weitgehend tun und lassen konnte, was ich wollte.
„Es ist nicht weit von hier“, erklärte mir Sextus Plotius.
Er war Vorsteher des Collegiums der Bronzegießer und zudem ein in der Stadt sehr bekannter Eques. Was jedoch das Wichtigste war: Er servierte den besten Chios-Wein, den ich je getrunken hatte. „Es war schon immer da“, fuhr er fort, „vielleicht stammt es sogar noch aus der Zeit der Ureinwohner. Wie es heißt, haben sowohl Odysseus als auch Aeneas das Orakel konsultiert.“
Baiae ist, wie könnte es anders sein, nach seinem Gründer Baios benannt, dem Steuermann des Odysseus. Jede zweite Stadt, in der ich gewesen bin, Rom eingeschlossen, beruft sich darauf, von einem Veteranen des Trojanischen Krieges gegründet worden zu sein, oder zumindest von einem direkten Nachfahren irgendeines Veteranen. Das kann eigentlich gar nicht sein, denn wenn man Homer Glauben schenkt, gab es während des Trojanischen Krieges so viele Tote, dass kaum so viele Stadtgründer überlebt haben dürften.
„Wie schön!“, rief Julia erfreut. „Können wir es besuchen?“ Meine Frau zeigte deutlich mehr Interesse für religiöse Angelegenheiten als ich. Ich hatte bereits die ebenfalls in der Nähe befindliche und sehr viel berühmtere Sibylle von Cumae besucht, und sie hatte mich nicht im Geringsten beeindruckt.
„Aber meine Liebe“, wandte ich ein, „wir haben in Rom doch selber einen ausgezeichneten Mundus.“
„Aber das ist doch etwas völlig anderes!“, stellte sie klar. „Unser Mundus gewährt uns vielleicht Zugang zu den Schatten unserer Verstorbenen in der Unterwelt. Aber ein Orakel gibt es bei uns nicht.“
„Und die Toten wissen auf alles eine Antwort“, fügte unser Gastgeber hinzu.
Ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb, als diesem Wunder einen Besuch abzustatten. Warum die Menschen den Toten eine derartige Allwissenheit zuschreiben, habe ich noch nie verstanden. Zu Lebzeiten hat auf ihren Sachverstand niemand große Stücke gegeben, und an eine postmortale Weiterentwicklung glaube ich nicht. Selbst wenn sie mit uns in Verbindung treten wollten - warum sollten wir erwarten, dass sie die Wahrheit sagen? Die meisten Menschen sind zeit ihres Lebens Lügner, warum sollten sie nach ihrem Tod plötzlich keine mehr sein? Die Leute haben einfach unrealistische Vorstellungen.
Also fand ich mich am folgenden Morgen in einer voluminösen Sänfte wieder, unterwegs zu dem Orakel. Neben mir saßen meine Frau und Plotius, außerdem Julias Cousine, die ebenfalls Julia hieß, mit Spitznamen jedoch Circe gerufen wurde, und schließlich Antonia, eine Schwester des Marcus Antonius, und zwar des berühmten Marcus Antonius, des ergebenen Anhängers Caesars und zukünftigen Magister equitum und Triumviren. In einer weiteren Sänfte folgten uns einige weitere Männer meines Gefolges: mein Freigelassener Hermes, ein Verwandter namens Marcus Caecilius Metellus und einige andere, deren Namen mir leider entfallen sind. Als Praetor und Inhaber des Imperium reiste ich in jenen Tagen mit einem stattlichen Gefolge und einer ganzen Schar von Bediensteten. Da es ein Tag war, an dem offizielle Amtshandlungen verboten waren, hatte ich meine Liktoren bei der Villa zurückgelassen.
Es war ein angenehmer Ausflug, wie es überhaupt immer angenehm ist im ländlichen Campania - es ist einer der schönsten Landstriche Italias. Einst wurde es von einem Haufen Campaner, Samniten, Griechen und ähnlicher Völkerschaften beherrscht, doch dann eroberten wir es, besiedelten es mit guten, zuverlässigen römischen Bürgern und wiesen den Ureinwohnern den ihnen gemäßen Platz zu. Schließlich erreichten wir einen an der wunderschönen Küste gelegenen Tempel, von dem aus man einen herrlichen Blick auf das Meer und die im Hintergrund liegende Insel Capreae hatte. Genau im Moment unserer Ankunft stach von dem nahe gelegenen
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