Das Orakel vom Berge
Dualismus von Yin und Yang besteht nicht mehr. Yin steht hier für das lichtvolle, schöpferische, männliche, geistige Prinzip, Yang für das nächtige, empfangende, weibliche, stoffliche (wobei die Begriffe ›männlich‹ und ›weiblich‹ nicht unbedingt in unserem westlichen Sinne zu verstehen sind). Der Taoismus beschreibt die Wirklichkeit als diese beiden Gegensätze, die unentwegt aufeinander einwirken. Doch (im Gegensatz zu westlichen Philosophien) besteht kein Konflikt zwischen diesen beiden Elementen, kein Kampf zwischen Licht und Dunkelheit, Gut und Böse; sie sind gegensätzliche Aspekte des Tao, des Weges, und beide notwendig, um die Ordnung des Universums aufrechtzuerhalten. Wie es Patricia Warrick in ihrem Aufsatz ›The Encounter of Taoism and Faschism in The Man in the High Castle ‹ ausdrückte, ist es die Aufgabe eines jeden Menschen, das Tao oder den harmonischen Weg zu finden, der die Gegenseite ausbalanciert. Ein Vorgehen, das der Natur (wei) widerspricht, ist zu vermeiden; vielmehr sollte der Mensch durch seine Taten diese Harmonie (wu wei) stärken.
Dieses taoistische Konzept findet bereits bei dem Aufbau des Romans Anwendung. Klare Gegensätze zwischen Gut und Böse gibt es nicht, vielmehr ist das eine im anderen enthalten. (So auch das taoistische Zeichen: weißer Punkt im schwarzen Feld und schwarzer Punkt im weißen Feld: ›Schwer liegt die Heuschrecke‹ in der Naziwelt und ›Das Orakel vom Berge‹ in unserer.) Die Charaktere sind ständigen Wandlungen unterzogen. Erscheint Mr. Childan anfangs als der Sympathieträger des Buches, so wird er mit fortlaufender Handlung immer unsympathischer; erscheint Mr. Tagomi anfangs als überheblicher, starren Strukturen verhafteter Vertreter der japanischen Siegermacht, so entwickelt er sich mit fortlaufender Handlung zu einer wahrhaft tragischen Gestalt, der das volle Mitgefühl der Leser zukommt. Dick hat große Sorgfalt auf die Ausarbeitung seiner Charaktere gelegt: Seine Handlungsträger sind so plastisch geschildert wie kaum sonst in der SF (nicht umsonst lobte Ursula K. LeGuin in ihrem Aufsatz ›Science Fiction and Mrs. Brown‹ gerade Mr. Tagomi als einen der besten Charaktere, den die SF jemals geschaffen hat). Es sind Menschen, die Situationen durchleben, über die sie nachdenken; Menschen, die Fehler machen, die auf den zukünftigen Verlauf ihres Lebens Auswirkungen haben. Sie reflektieren das, was sich in ihnen abspielt, so daß man erfährt, wer sie sind: Niemand ist gut oder schlecht. Wer man ist, haben die Umstände zu verantworten; wie man sich verhält, hat man an den Umständen zu verantworten. Die handelnden Charaktere wachsen mit fortschreitender Seitenzahl (teilweise sogar über sich hinaus).
Auch in den unbelebten Gegenständen, die im Roman Bedeutung gewinnen, findet sich dieses taoistische Prinzip: Der nachgebaute Colt, der für Mr. Tagomi seine Bedeutung verloren hat und den er an Robert Childan zurückgeben will (und dessen Rücknahme dieser verweigert, weil er befürchtet, daß es sich um eine unechte ›Antiquität‹ handelt), bekommt eine Bedeutung, als Mr. Tagomi damit die beiden Nazi-Häscher tötet und Japan so eventuell vor der Vernichtung bewahrt. Die modernen Schmuckstücke Frank Frinks, die Robert Childan zuerst zurückweist und dann aus reinem Eigennutz in Kommission nimmt, bekommen große Bedeutung, als die Japaner das Wu in ihnen entdecken und Childan sich schließlich weigert, sie in Massenproduktion als Amulette herstellen zu lassen. Und so greifen die verschiedenen Handlungsebenen ineinander über: Obwohl sich die meisten Charaktere in der äußeren Handlungsebene, den drei Parallelhandlungen in San Francisco, untereinander nicht kennen und sich zum Teil nicht einmal begegnen, nehmen ihre Handlungen Einfluß auf das Schicksal der Welt, während Juliana Frink in der inneren Handlungsebene, die sich in den Rocky Mountain-Staaten vollzieht, die Natur der Wirklichkeit dieser Welt ergründet.
Mit diesem Aufbau des Romans ist Dick ein Meisterwerk gelungen. Wenn man den nackten Plot liest, mag er einem möglicherweise stark episodisch vorkommen. Jede dieser Episoden könnte ausnahmslos für sich allein stehen. Doch das ist es schließlich, was die Stärke eines Romans ausmacht: daß nie Leerläufe entstehen und man als Leser nie dem Gefühl aufsitzt, hier werde etwas konstruiert. Darüber hinaus erlangt Dick durch die Verzahnung dieser einzelnen Handlungsteile zu einem in sich schlüssigen Verlauf, der
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