Freiheit
Freiheit
Ich bin in diesem Land viel unterwegs, und nicht selten beschleicht mich dabei das Gefühl, einer gewissen Minderheit anzugehören. Nicht etwa, weil ich aus Mecklenburg komme. Das ist es nicht, was dieses Minderheitengefühl erzeugt. Es ist vielmehr meine tiefe Überzeugung, dass die Freiheit das Allerwichtigste im Zusammenleben ist und erst Freiheit unserer Gesellschaft Kultur, Substanz und Inhalt verleiht. Bei vielen Menschen aber, die mir im Land begegnen, vermute ich eine geheime Verfassung, deren virtueller Artikel 1 lautet: »Die Besitzstandswahrung ist unantastbar.« Ich habe nichts gegen Besitz, auch nichts gegen materielle Sicherheit. Das alles ist erfreulich, vor allem, wenn man darauf verzichten musste wie meine Generation, die Krieg und Nachkriegszeit erlebt hat. Aber wie kommt es, dass wir Deutschen ein erkennbar anderes Verhältnis zum Grundprinzip der Freiheit haben als etwa die US-amerikanische Nation oder unser polnisches Nachbarvolk?
Eine historische Erklärung führt unsere Neigung, auf gutem Fuß mit unserer jeweiligen Obrigkeit zu stehen, auf den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) zurück. Damals konnte eine ganze Generation Deutscher hingemordet und missachtet, geschändet, vertrieben und all ihrer Rechte beraubt werden. Nach dem Westfälischen Frieden hätten die Landesherren ihren Untertanen die lang entbehrte Sicherheit, Rechtssicherheit und Überlebenschance garantiert - von daher rühre die tiefe Dankbarkeit der jeweiligen Obrigkeit gegenüber.
Ich kann und will diesen Erklärungsversuch nicht fachlich beurteilen, Tatsache ist jedenfalls, dass sich bei den Deutschen ein besonderes Verhältnis zur Freiheit entwickelt hat.
Heinrich Heine hat es einmal in ein Bonmot gefasst, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. In seinen »Englischen Fragmenten« heißt es:
»Der Engländer liebt die Freiheit wie sein rechtmäßiges Weib. Er besitzt sie, und wenn er sie auch nicht mit absonderlicher Zärtlichkeit behandelt, so weiß er sie doch im Notfall wie ein Mann zu verteidigen. Der Franzose liebt die Freiheit wie seine erwählte Braut. Er wirft sich zu ihren Füßen mit den überspanntesten Beteuerungen. Er schlägt sich für sie auf Tod und Leben. Er begeht für sie tausenderlei Torheiten. Der Deutsche liebt die Freiheit wie seine Großmutter.«
Ich kann nicht behaupten, dass mich Heines Worte getröstet hätten. Inzwischen weiß ich aber, dass er nur bedingt recht hatte. Denn der 17.Juni 1953 und das Jahr 1989 haben mich gelehrt, dass sich auch Deutsche für die Freiheit »schlagen« können.
So hat 1989 mein Leben in einer wunderbaren Weise verwandelt. Ich war plötzlich wieder in einer positiven Beziehung zu meiner Nation, weil die Menschen im Osten, die so lange ohnmächtig gelebt haben, die Freiheit plötzlich liebten - nicht nur Minderheiten von Dissidenten, Widerständlern und Oppositionellen, nein, breite Schichten aus der Mitte einer Bevölkerung heraus, die viele lange Jahre ganz gut in einer unüberzeugten Minimalloyalität überwintern konnten.
Diktaturen können lange, sehr lange existieren. Es gibt schließlich bis in unsere Tage kommunistische Diktaturen wie in Kuba und Nordkorea oder despotische wie in Afrika und Vorderasien, weil die kritische Masse fehlt, die auf die Straße zieht und ganz selbstbewusst beansprucht, sie sei das Volk. Denn in der DDR hat sich nicht eine Implosion ereignet; die Entwicklung verdankt sich auch nicht nur dem guten Willen eines Herrn Gorbatschow. Letztendlich sind es deutsche Bürgerinnen und Bürger gewesen, die auf den sächsischen Straßen eine Erkenntnis umgesetzt haben, die in Frankreich als kostbarstes Wort der Politikgeschichte längst in jedem Klassenzimmer hängen würde: »Wir sind das Volk!«
Dieser Satz hat uns gelehrt, dass wir, wenn wir unserer Sehnsucht glauben und ihr vertrauen, die Angst verlieren können. Eine Angst, die die willfährige Dienerin jeder Art von nicht legitimierter Herrschaft ist, die uns ohnmächtig macht, die uns bindet. In dem Augenblick aber, in dem wir unsere Angst als Angst benennen und Anpassung und Angst als Geschwisterkinder erkennen, sind wir möglicherweise bereit zu erproben: Können wir auch ohne sie leben? In genau diesem Augenblick wachsen uns jene Kräfte zu, die eine ganze Gesellschaft verändern können.
Und so erlebten wir innerhalb eines Jahres zwei Gesichter von Freiheit: Jenes anarchische Antlitz, das Freiheit immer hat, wenn sie jung ist, das junge Leute begeistern kann und
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