Das Parfum: die Geschichte eines Mörders
Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hätte sich im beruhigenden Glauben wiegen können, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hätte.
Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zurückgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dünsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drängte und die sich scheinbar selbst überlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewöhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plötzlich, völlig unerwartet, nächtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Kühlerkate oder einer Räuberhöhle verriet. Und er flüchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So führte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit entgegen.
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Dieser Pol, nämlich der menschenfernste Punkt des ganzen Königreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa fünf Tagesreisen südlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal.
Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrüpp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zähne aufragten und ein paar von Bränden verkohlte Bäume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der ärmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hätte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen Öde nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hätte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wäre. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblütiges Tier, bloß ein paar Fledermäuse und ein paar Käfer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lüfte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase über das gewaltige Panorama des vulkanischen ödlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sämpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen war und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Süden schließlich, wo die Ausläufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. Überall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hätte jeder Schritt in jede Richtung wieder größere Menschennähe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwöhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der dürren Gräser, und sonst nichts.
Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Glück
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