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Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Das Parfum: die Geschichte eines Mörders

Titel: Das Parfum: die Geschichte eines Mörders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Süskind
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bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen „Prestige du Quebecs“ einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg - das stand fest - ihn für den Wegfall des Englandgeschäfts mehr als entschädigen würde. Mit diesem süßen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbüchleins angenehm spürbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.
    In der Nacht nämlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebührender Verzögerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sämtliche Häuser auf sämtlichen Brücken der Stadt Paris auf Königlichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Häuser stürzten in den Fluss, so vollständig und so plötzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glücklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, nämlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den frühen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da -, erlitt einen nervösen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschäft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hätte!
    Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Büchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas größtem Parfumeur, zurückblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre überschwebte.

ZWEITER TEIL

— 23 —
    Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini stürzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dünnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter für Meter Hunderte, Tausende verschiedener Gerüche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen über das Land, langsam sich blähend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen.
    Grenouille empfand diese Simplizität wie eine Erlösung. Die gemächlichen Düfte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu müssen. «Fast» sagen wir, denn wirklich frei Strömte natürlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklänge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Glück erlebte, atmete er lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem Mörderischen Schrei. Aber von dieser Einschränkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschränkung war, fühlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Körperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewöhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
    Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plätzen wimmelte es von ihnen, und die Häuser

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