Und dennoch
Vorwort
Am Ende meines neunten Lebensjahrzehnts möchte ich noch einmal zurückblicken. Nicht in Form einer Autobiographie oder einer Beschreibung von historischen Abläufen, sondern als politische Zeugin meiner Lebenszeit seit 1945. Es ist eine lange Wegstrecke, in der ich die Ereignisse und Prozesse in Deutschland seit der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur als Beteiligte miterlebt habe, also ein Zeitraum von über fünfundsechzig Jahren. Er beginnt mit dem Ende des Krieges und der Teilung Deutschlands in vier Zonen und endet mit der Wiedervereinigung und der vollständigen Souveränität. Entscheidend war für mich, zu erleben, wie unsere Demokratie, die zunächst von den westlichen Siegermächten angeordnet, mit steigendem Wohlstand jedoch akzeptiert, zu guter Letzt angenommen wurde und aus eigenen Kräften Gestalt annahm. Von Anfang an nahm ich daran aktiv und engagiert teil, eine brave Mitläuferin war ich nie. Nun möchte ich auf diese Stationen noch einmal zurückblicken. Es ist also eine Art Spätlese.
Dafür habe ich mehrere Gründe. So habe ich in der Nach-Hitler-Zeit Erfahrungen gesammelt, die meiner Meinung nach für die politische Bewusstseinsbildung kommender Generationen wissenswert sind. Es sind Erfahrungen über unsere Demokratiewerdung auf den Trümmern der Nazi-Diktatur, über die langwierige und schwierige Abkehr von Obrigkeitsstaat und traditioneller Untertanengesinnung. Dies schließt auch die Auseinandersetzung mit der Hitler-Diktatur ein, die mit einer überwiegend missglückten Entnazifizierung sowie einer verzögerten, teilweise unzulänglichen Wiedergutmachung der Opfer des nationalsozialistischen Terrors verbunden ist. Aus eigenem Erleben
schildere ich die Ursachen für Versäumnisse und Verspätungen bei überfälligen Reformen, insbesondere in der Bildungs- und Gesellschaftspolitik, und als ehemaliges FDP-Mitglied habe ich etliche Stationen des Glanzes und Elends des politischen Liberalismus miterlebt. Auch beschäftigten und beschäftigen mich noch immer die Probleme anlässlich der Wiedervereinigung des vierzig Jahre geteilten deutschen Staates; und nicht zuletzt kann ich auch auf sechs Jahrzehnte Politik als Frauenberuf zurückblicken, in denen sich in jeder Hinsicht viel getan hat.
All das sind Erfahrungen und Entwicklungen, die ich gegen Geschichtsvergessenheit, ja Geschichtslosigkeit setzen möchte. Diese, unsere Geschichtsvergessenheit halte ich nicht nur bei nachwachsenden, sondern auch bei in Verantwortung stehenden Generationen für besorgniserregend: Immer mehr Deutsche wissen immer weniger von historischen Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit, weshalb es ihnen auch nicht möglich ist, zu beurteilen, wie diese im gegenwärtigen und künftigen politischen Geschehen weiterwirken. Besonders ist das der Fall, wenn es die dunkelsten Kapitel unserer Vergangenheit betrifft, die oftmals unterschwellig fortwirken. Diese Geschichtsvergessenheit wird wahrscheinlich dann weiter zunehmen, wenn die letzten Zeugen der Nazizeit gestorben sind und ihre mahnende Erinnerung verstummt.
Meine zeitgeschichtliche Rückschau will dagegenhalten. Sie erfolgt als pragmatisch-politische Berichterstattung, nicht als wissenschaftliche Aufarbeitung, und ist nur dann biographisch, wenn es zur Thematik gehört. Sie soll informieren und aufklären, aber auch Wertungen einer freischaffenden liberalen Politikerin anbieten.
Damit möchte ich Interesse für die Vorgeschichte von aktuellen politischen Zusammenhängen wecken, wenn es etwa um das Wiederaufleben von Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geht. Ein weiteres Thema ist die aktuell grassierende Politik(er)- und Demokratieverdrossenheit, die eine erschreckende Entfremdung zwischen Gesellschaft und demokratischen
Institutionen zur Folge hat. Gemeint sind damit Parteien und Parlamente. Diese Verdrossenheit ist nicht »vom Himmel gefallen«, sondern Ergebnis einer traditionellen Abneigung der Deutschen gegen Parteien und demokratische Prozesse, die neuerlich wieder stärker aufgebrochen ist. Nur wenn man diese bedenkliche Entwicklung und ihre Wurzeln erkennt, kann sie überwunden werden. Das gilt ebenso für das notwendige Fingerspitzengefühl in internationalen Beziehungen. Ich greife hier den Nahost-Konflikt als Beispiel heraus: Um zu verstehen, weshalb die Erinnerungen an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen in der westlichen Welt weiterschwelen und gelegentlich von Neuem aufbrechen, ist es erforderlich, diese
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