Das Pesttuch
Apfelernte
Früher habe ich diese Jahreszeit geliebt. Holzst a pel neben der Türe. Frischer Harzgeruch, der die Erinn e rung an den Wald birgt. Goldglänzende Heuhaufen im tief stehenden Nachmitt agslicht. Im Keller rollen Äpfel poltern d in di e Kisten. G e rüche und Bilder und Geräusche. Alles werde gut dieses Jahr, versprachen sie. Und wenn der Schnee fiele, hätten die Kleinsten zu essen und lägen warm. Früher bin ich um diese Zeit gerne im Obstgarten unter den Apfelbäumen spaziert. Wie weich es unter den Füßen nachgab, wenn ich auf Fallobst trat. Der süßlich-schwere Duft nach verfaulenden Äpfeln und feuchtem Holz. Dieses Jahr gibt’s nur wenige Heubündel und spärliche Holzhaufen. Und beides bedeutet mir nicht viel.
Gestern haben sie die Äpfel gebracht, eine Wage n ladung für den Pfarrkeller. Spät geerntet, was sonst. Auf ziemlich vielen entdeckte ich schwarze Flecken. Ich habe den Fuhrmann deswegen ins Gebet g e nommen, aber er meinte nur, wir sollten froh sein, überhaupt welche zu bekommen. Vermutlich nur al l zu wahr. Es gibt doch nur so wenig Leute für die Ernte. So wenig Leute für alles und jedes. Und wer von uns noch übrig ist, geht he r um, als schliefe er halb. Wir alle sind so müde.
Einen der knackigen und guten Äpfel nahm ich und schnitt ihn auf, hauchdünn, und trug ihn in jenen dämmrigen Raum, wo er sitzt, reglos und stumm. Seine Hand liegt auf der Bibel, und doch schlägt er sie nie auf. Jetzt nicht mehr. Ich fragte ihn, ob er möchte, dass ich ihm daraus vorlese. Er wandte den Kopf, um mich anzuschauen, und ich zuckte zusa m men. Seit Tagen war es das erste Mal, dass er mich ansah. Ich hatte vergessen, was seine Augen auslösen konnten, wozu sie uns bringen konnten, wenn er u n verwandt von der Kanzel heruntersah und uns mit se i nen Blicken festhielt, einen nach dem anderen. Die Augen sind immer noch dieselben, nur sein G e sicht hat sich so sehr verändert. Verhärmt und ausg e zehrt und jede Falte tief eing e graben. Als er hierher kam – ganze drei Jahre ist das her –, machte sich das ganze Dorf über sein jugendliches Aussehen lustig und da r über, dass so ein Jüngling zu ihnen predigen sol l te.
»Anna, du kannst nicht lesen.«
»Hochwürden, ich kann’s. Mistress Mompellion hat’s mir beigebracht.«
Als ihr Name fiel, zuckte er zusammen und wan d te sich ab, und sofort bedauerte ich es. Heu t zutage macht er sich nicht die Mühe, seine Haare zusa m menzubinden. Lang und dunkel fielen sie herab und verbargen sein Gesicht, sodass ich se i ne Miene nicht lesen konnte. Aber als er erneut sprach, klang seine Stimme leidlich gefasst. »Ta t sächlich? Hat sie das?«, murmelte er. »Nun ja, dann werde ich dich vielleicht eines Tages anhören. Damit ich weiß, wie gut sie i h re Sache g e macht hat. Aber heute nicht, Anna, ich danke dir. Nicht heute. Das wäre dann alles.«
Eine Dienerin hat kein Recht zu bleiben, wenn man sie entlassen hat. Und doch tat ich’s, schü t telte das Kissen auf, legte ein Schultertuch zurecht. Er würde mich kein Feuer machen lassen. Nicht einmal dieses winzige Stück Behaglichkeit würde er von mir annehmen. Als ich schließlich nichts angeblich Wichtiges mehr zu tun hatte, verließ ich ihn.
In der Küche nahm ich ein paar angeschlagene Apfel aus den Eimern und ging hinaus in die Stä l le. Der Hof war ganze sieben Tage nicht gefegt worden. Es roch nach fauligem Stroh und Pferd e pisse. Ich musste meinen Rock hochraffen, damit er n icht schmutzig wurde. Schon auf halbem W e ge konnte ich den dumpfen Schlag hören, wenn sein Pferd bei jeder Drehung und Wendung mit dem Rumpf gegen den engen Pferch stieß und d a bei tiefe Rillen in den Stallboden grub. Heutzutage ist niemand mehr krä f tig oder erfahren genug, um mit ihm fertig zu we r den.
Der Stallbursche, dessen Sache es war, den Hof sauber zu halten, döste auf dem Boden der Satte l kammer. Bei meinem Anblick sprang er auf und suchte umständlich nach dem Sichelgriff, der ihm beim Einschlafen aus der Hand gerutscht war. Als ich das Sichelblatt sah, das noch immer auf seiner Werkbank lag, wurde ich wütend, hatte ich ihn doch schon seit langem gebeten, es auszubessern. Inzw i schen war das Lieschgras abgeblüht und keinen Schnitt mehr wert. Eigentlich wollte ich ihn deshalb und wegen des Unrats draußen schon ausschelten, aber beim Anblick seines verhärmten und erschöp f ten Gesichtes schluckte ich die Wo r te hinunter. Ich konnte nicht anders.
Als ich die Stalltür
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