Altoetting
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Der dritte Judas in sechs Wochen, zwei davon waren tot, einer wurde vermisst.
Für Plotek hätten es aber auch zehn oder zwanzig in acht oder achtzehn Wochen sein können und davon alle tot. Paul Plotek hat sich noch nie für Judasse interessiert. Obwohl er von der Pike auf katholisch erzogen war, mit Abendmahl, Evangelium, Matthäus, Johannes und allem. Auch Ministrant war Plotek gewesen. Vom sechsten Lebensjahr an bis zum vierzehnten, mit Weihrauch, Messgewand, Eucharistie, Hochamt und Frühmesse. Aber das war die Kindheit, und die war längst vergangen. Und jetzt war jetzt.
Jetzt saß Plotek am Tresen im Froh und Munter in Neuhausen, das war ein Stadtviertel in München, und sah aus wie ein Häufchen Elend. Wie ein ausgespuckter Speichelbatzen hing er auf dem Barhocker. Bloß gut, dass das Licht zurückgedimmt war, sonst wäre das Entsetzen groß gewesen. Er saß da und interessierte sich nicht für die Judasse. Auch nicht für die anderen Jünger. Obwohl die weniger problematisch waren. Nicht einmal Jesus weckte bei ihm Interesse. Plotek hatte andere Sorgen als die katholische Passion. Was für Sorgen? Na ja, darüber wollte Plotek nicht sprechen. Deshalb schüttelte er immer nur den Kopf. Nichts reden, nichts erklären, bloß trinken – das war Ploteks Devise. Den ganzen Abend schon. Und auch alle Abende davor. Seit Wochen.
Arnos Devise dagegen war, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel zu sagen. Also redete Arno unentwegt mit Händen und Füßen und auf Plotek ein. Was dem wiederum nicht unrecht war. Was Arno redete, musste Plotek schon nicht mehr sagen.
Als Arno aufgetaucht war im Froh und Munter , hatte Plotek noch gedacht, was für ein Zufall, aber vielleicht erkennt er mich ja gar nicht? Ja, wegen der extremen Gewichtszunahme von 15 Kilo in drei Monaten, was so viel bedeutet wie, der Körper war verfettet, das Gesicht aufgeschwemmt, unrasiert, und die Haare waren auch länger als üblich. Aber falsch gedacht, sofort erkannt. Arno tat, als ob Plotek ganz der Alte wäre. So, als ob zwischen dem letzten Treffen nur ein Tschüss und keine zwölf Jahre gelegen wären. Ganz schön unsensibel, hätte Plotek denken müssen, wenn er weitergedacht hätte. Aber Plotek dachte nicht im Traum daran, weiterzudenken, sondern trank zwei Schluck von seinem Unertl-Weißbier . Ob er nun gedacht hat oder gedacht hätte oder auch nicht, ganz egal, getäuscht worden wäre Plotek so oder so. Arno war nämlich sensibler als es schien – mit oder ohne Ploteks Gedanken. Arno sah sofort, dass Plotek am Ende war. Also gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten. Erstens die negative Variante und zweitens die positive. Arno war Optimist, also schied die negative aus. Blieb die positive. Im Fall von Plotek hieß das, das Leid ignorieren und wegschauen. Nichts wissen wollen, wo andere alles erfahren müssen. Nicht fragen, antworten. Reden. Und tun, als ob nichts wäre. Quasi zur Tagesordnung zurückkehren. Das kam natürlich der Devise von Arno auch viel eher entgegen. Was so viel heißt wie, Arno redete und der andere hörte zu. Was Plotek natürlich auch lieber war. Deswegen war Arno auch sensibler als gedacht. Obwohl es Plotek am liebsten gewesen wäre, wenn Arno erst gar nicht gekommen, und wenn schon da, zumindest gleich wieder gegangen wäre. Das wäre natürlich zu viel verlangt gewesen nach Zwölf-Jahren-nicht-Sehen. Hat man Arno so angeschaut, hätte man denken können, der ist, wie er aussieht. Im Prinzip ganz der Alte und wie immer – der hat sich überhaupt nicht verändert. Weit gefehlt! So täuscht man sich eben im Menschen. Der eine sieht aus wie ein Linguistikprofessor und ist in Wirklichkeit Baggerfahrer. Und der andere ist Linguistikprofessor und sieht aus wie ein Obdachloser. Stimmt schon, es gibt auch Obdachlose, die nicht aussehen wie Linguistikprofessoren, aber trotzdem welche sind. Und dann wiederum Linguistikprofessoren, die aussehen wie Linguistikprofessoren und auch Linguistikprofessoren sind. Und obdachlose Obdachlose. Das gibt’s alles, denn es gibt nichts, was es nicht gibt auf dieser Welt.
Arno hat auf jeden Fall picobello ausgesehen. In Klamotten von Armani oder Boss und wie ein Geschäftsmann eben. An den Füßen italienische Designerschuhe aus Rindsleder – das sah man nicht alle Tage. An der Hand eine teure Uhr mit Funktionen – ohne Lexikon oder Gebrauchsanweisung so dick wie ein Telefonbuch ging da gar nichts. Sogar sprechen konnte die. Verstanden hat man sie zwar nicht, weil sie so
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