Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
Lagerstraßen waren schlammig, zerfurcht von Wagenrädern. Einst war das ein Feld gewesen, das die Aes Sedai in Beschlag genommen und verwandelt hatten. Zum Teil in einen Ort des Krieges, da Brynes Soldaten in einem Kreis um sie herum lagerten. Zum Teil in eine Stadt, auch wenn es noch nie eine Stadt mit so vielen Aes Sedai, Novizinnen und Aufgenommenen gegeben hatte. Und zum Teil war es ein Monument der Schwäche der Weißen Burg.
Egwene ging über die Hauptstraße des Lagers, wo Unkraut zu Schlamm zertreten und der Schlamm schließlich zu einer Straße geworden war. Hölzerne Gehwege säumten sie, und das sich daran anschließende flache Land war mit Zelten übersät. Hier gab es keine Menschen, nur gelegentliche flüchtige Blicke auf Schläfer, die sich ins Tel’aran’rhiod verirrt hatten. Hier war kurz eine Frau in einem schönen grünen Kleid zu sehen. Vielleicht eine träumende Aes Sedai, obwohl es vermutlich nur eine Dienerin war, die träumte, eine Königin zu sein. Da war eine Frau in Weiß – eine Matrone mit strähnigen blonden Haaren, die viel zu alt war, um Novizin sein zu können. Aber das spielte keine Rolle mehr. Man hätte das Novizinnenbuch schon vor langer Zeit allen öffnen sollen. Die Weiße Burg war zu schwach, um neue Quellen der Kraft abweisen zu können.
Beide Frauen waren beinahe so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Nur wenige Träumer blieben lange im Tel’aran’rhiod ; um länger zu bleiben, brauchte man entweder eine besondere Fähigkeit, wie Egwene sie hatte, oder ein Ter’angreal wie den Ring, den Siuan benutzte. Es gab noch eine dritte Möglichkeit. In einem lebenden Albtraum gefangen zu sein. Von denen waren aber keine zu sehen, wofür man dem Licht danken musste.
Es erschien seltsam, das Lager so verlassen zu sehen. Schon vor langer Zeit hatte Egwene aufgehört, sich von dem unheimlichen Fehlen von Menschen im Tel’aran’rhiod nervös machen zu lassen. Aber dieses Lager war irgendwie anders. Es sah aus, wie ein Kriegslager vermutlich aussah, nachdem alle Soldaten auf dem Schlachtfeld abgemetzelt worden waren. Verlassen und trotzdem noch immer ein Banner, das Kunde vom Leben jener gab, die es bewohnt hatten. Egwene hatte das Gefühl, die Spaltung sehen zu können, von der Siuan gesprochen hatte; Zelte standen zusammen wie ein Haufen Blumenbeete.
Da die Individuen entfernt worden waren, konnte sie die Muster erkennen und die Schwierigkeiten, von denen sie kündeten. Egwene konnte Elaida beschuldigen, für die Zerwürfnisse zwischen den Ajahs der Weißen Burg verantwortlich zu sein, aber ihre eigenen Aes Sedai fingen ebenfalls an, sich zu entzweien. Zugegeben, es war so gut wie unmöglich, dass drei Aes Sedai zusammentrafen, ohne dass zwei ein Bündnis schlossen. Es war ja gesund und erstrebenswert, dass die Frauen im Lager Pläne schmiedeten und Vorbereitungen trafen; die Schwierigkeiten fingen erst dann an, wenn sie anfingen, andere ihrer Art als Feinde statt als Rivalen zu betrachten.
Unglücklicherweise hatte Siuan recht. Egwene blieb nicht mehr viel Zeit, um ihre Hoffnungen auf eine Aussöhnung zu setzen. Was, wenn die Weiße Burg Elaida nicht absetzte? Was, wenn die Differenzen zwischen den Ajahs niemals mehr beigelegt wurden? Was dann? In den Krieg ziehen?
Es gab noch eine andere Möglichkeit, eine, die keine von ihnen erwähnt hatte: permanent auf die Aussöhnung zu verzichten. Eine zweite Weiße Burg aufzubauen. Es würde bedeuten, die Aes Sedai im Streit zu lassen, vielleicht für immer. Die Vorstellung ließ Egwene erschaudern, ihre Haut juckte und rebellierte gegen den Gedanken.
Aber wenn ihr keine andere Wahl blieb? Sie musste die Auswirkungen bedenken, und sie fand sie beängstigend. Wie sollte sie die Kusinen oder die Weisen Frauen dazu ermutigen, sich den Aes Sedai anzuschließen, wenn die Aes Sedai selbst keine Einheit bildeten? Die beiden Weißen Burgen würden gegensätzliche Kräfte werden und alle politischen Anführer verwirren, während die rivalisierenden Amyrlin versuchten, Nationen für ihre eigenen Zwecke zu benutzen. Verbündete wie Feinde würden die Ehrfurcht vor den Aes Sedai verlieren, und es war nicht auszuschließen, dass Könige anfingen, ihre eigenen Zentren für in der Macht begabte Frauen zu gründen.
Egwene stählte sich und ging die schlammige Straße entlang; die Zelte auf dem Weg veränderten sich, ihre Eingänge flatterten auf die seltsam vergängliche Weise der Welt der Träume. Sie fühlte, wie die Stola
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