Seziert: Das Leben von Otto Prokop (German Edition)
Einleitung
Es gab einen Mann, der jeden innerlich berührte, der ihn traf: Professor Otto Prokop. Im Berlin-Brandenburger Raum kennen die meisten älteren Erwachsenen meist nur einen, eben den Prokop – Chef der Ostberliner Rechtsmedizin, Österreicher, Feingeist und die Stimme des Wahren in einer Welt, in der vieles sehr offensichtlich nicht der Wahrheit entsprach.
Obwohl Professor Prokop in dritter Generation aus einer konservativen Ärztefamilie stammte, sprach er in prall gefüllten Hörsälen und sogar im Fernsehen zu Laien. Seine öffentlichen Vorträge wurden in Berlin mit Zetteln an Bäumen angekündigt – für einen medizinischen Institutsdirektor damals eine ungewöhnliche Öffnung nach außen.
Der Charme des Professors war bis ins hohe Alter bestechend. Dass er manchmal lateinisch sprach, löste Ehrfurcht und Stolz aus.
So gut es zwischen einem jungen Biologen und einem strahlkräftigen Professor der alten Schule geht, war ich mit Professor Prokop befreundet. Ich stieß auf ihn, weil ich in den 90er Jahren mit viel zu großer Anzugsjacke in Rostock bei der Tagung der Gesellschaft für Rechtsmedizin einen Vortrag über Insekten auf Leichen und kurz darauf einen über angebliche Selbstentzündung von Menschen gehalten hatte. »Sie müssen Prokop kennenlernen«, sagten mir mehrere rechtsmedizinische Kollegen aus Ostdeutschland, »denn Sie denken wie er!«
Doch wie dachte ich? Und wie dachte er? Eines Tages sprach ich Professor Prokop an und erfuhr es.
Später widmete ich ihm mein Buch über Kriminalbiologie. Prokop beschrieb diese Widmung als das schönste Ereignis des Jahres. Ich hätte ahnen können, dass auch Bitterkeit in dieser Freude mitschwang. Denn die wissenschaftliche Welt hatte ihn, den großen Forscher und noch größeren akademischen Lehrer, da schon längst vergessen.
Er wollte nicht vergessen werden und vergaß auch andere nicht: Widmung im »Atlas der gerichtlichen Medizin«.
»Was, der lebt noch?«, war demgemäß die häufigste Frage, die ich während meiner über zehnjährigen Recherchen zum vorliegenden Buch hörte. Es fuchste den alten Mann gewaltig. Doch dagegen tun konnte er nichts.
Schon 2001 hatte ein Journalist Prokop auf Zeitungspapier für tot erklärt. Prokop beschwerte sich, und in der Online-Version des Artikels wurde der Irrtum aufgelöst. Doch man sah: Die Zeit war über ihn hinweggeschwappt. Als Otto Prokop 2009 starb, waren viele Nachrufe auf ihn geistreich, aber im Vergleich zu seinem Leben und Wirken erstaunlich karg.
Auch als die Berliner Schriftstellerin Gabriele Goettle im Jahr 2000 nach dem alten Mann forschte, hatte sie anfangs Pech. »Herr Professor Prokop war derart unauffindbar, dass ich dachte, er sei bereits tot«, schreibt Goettle. »Es gab keinen Eintrag im Telefonbuch, niemand kannte seine letzte Adresse. Durch einen Zufall fand ich ihn dann doch, stieß aber auf barsche Ablehnung. Er machte mir unmissverständlich klar, dass er unauffindbar sein und bleiben möchte.«
Man bemühte sich, auch von allen anderen Seiten, Prokop tatsächlich unauffindbar bleiben zu lassen. Beispielsweise stimmte die Geschichte nicht, dass er »im Alter von 66 Jahren sein Zimmer mit den alten Ahornbäumen vor dem Fenster, dem mächtigen Holzschreibtisch und den deckenhohen Bücherregalen räumte«, wie es sein Nachfolger dem Berliner Kurier berichtete. In Wahrheit saß der alte Professor weiter täglich, auch sonntags, in seinem Büro in der Hannoverschen Straße 6. Nur die deckenhohen Regale leerten sich wirklich. Der DEFA (Deutsche Film AG und ehemals volkseigenes Filmunternehmen der DDR ) vermachte Prokop seine geliebten Lehrfilme, und seine Fachbücher verkaufte er einer großen Biotechnik-Firma. Kleinere Zettel und Notizen verschenkte er zur Verblüffung seiner wenigen Besucher an sie.
Das Büro leert sich. Laut Instituts-Legende, die auch Journalisten erzählt wurde, hatte Prokop 1987 sein Direktoren-Zimmer geräumt und wurde fortan gegenüber Außenstehenden verleugnet.
Wenn er im Charité-Institut in der Hannoverschen Straße mit mir sprach, dann fast immer leise und ganz nah vor seinem eingeschalteten Radio. Denn dass er abgehört wurde, war für ihn selbstverständlich. Prokop wollte die Geister der Abhörenden, die schon längst normale Berufe im neuen System hatten, mit diesem Agententrick aus der Mottenkiste irgendwie doch noch ärgern. Doch es war viel zu spät. Der riesige Tresor in seinem Dienstzimmer war schon 1989 von Unbekannten geleert worden,
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