Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
Anschein erweckt hatten, viel zu wissend zu sein. Was gab es für eine bessere Tarnung als eine bescheidene Braune, die wegen ihres gedankenverlorenen, gelehrtenhaften Tuns von anderen Schwestern ständig mit Geringschätzung behandelt wurde?
»Ach, dieser Tee schmeckt ja so gut«, sagte Verin. »Wenn Ihr Laras das nächste Mal seht, dankt Ihr doch bitte in meinem Namen dafür. Sie hatte versprochen, noch unverdorbenen zu haben, aber ich habe ihr nicht vertraut. Heutzutage kann man sich nicht mehr auf viel verlassen, nicht wahr?«
»Was, Laras ist eine Schattenfreundin?«, wollte Egwene wissen.
»Beim Licht, nein!«, sagte Verin. »Sie ist vieles, aber keine Schattenfreundin. Da findet Ihr eher einen Weißmantel, der eine Aes Sedai heiratet, als dass sich Laras dem Großen Herrn verschwört. Eine außergewöhnliche Frau. Und wirklich gut darin, den Geschmack von Tee zu beurteilen.«
»Was habt Ihr mit mir vor?«, fragte Egwene und zwang sich zur Ruhe. Hätte Verin sie töten wollen, wäre das schon längst geschehen. Offensichtlich wollte sie sie für etwas benutzen, und das würde Egwene irgendwann eine Gelegenheit geben. Eine Gelegenheit zur Flucht, eine Gelegenheit, das Blatt zu wenden. Beim Licht, das kam zur schlimmstmöglichen Zeit!
»Nun«, sagte Verin, »zuerst werde ich Euch bitten, Euch zu setzen. Ich würde Euch ja Tee anbieten, aber ich bezweifle ehrlich, dass Ihr etwas von dem abhaben wollt, das ich trinke.«
Denk nach, Egwene!, rief sie sich zur Ordnung. Nach Hilfe zu rufen würde sinnlos sein; die Rufe würden sowieso nur Novizinnen hören, da ihre Roten Aufpasserinnen losgelaufen waren. Ausgerechnet jetzt allein zu sein! Sie hätte nie geglaubt, sich einmal nach ihren Kerkerwärterinnen zu sehnen.
Davon abgesehen würde Verin sie zweifellos mit Geweben aus Luft fesseln und knebeln, sollte sie nach Hilfe rufen. Und selbst wenn die Novizinnen sie hörten, würden sie angelaufen kommen, um zu sehen, was denn los war – und das würde sie bloß ebenfalls in Verins Fänge treiben. Also zog Egwene den einzigen Hocker im Zimmer heran und setzte sich. Ihr Hintern protestierte, als er mit dem ungepolsterten Holz in Berührung kam.
Stille kehrte in das kleine Zimmer ein; es war kalt und leblos, weil es vier Tage lang unbewohnt gewesen war. Fieberhaft suchte Egwene nach einem Ausweg.
»Ich beglückwünsche Euch zu dem, was Ihr hier erreicht habt, Egwene«, sagte Verin. »Ich habe ein paar der Dummheiten verfolgt, die zwischen den Ajah-Fraktionen vorgehen, auch wenn ich mich entschied, mich nicht persönlich darin einzumischen. Meine Forschungen fortzuführen und den jungen al’Thor im Auge zu behalten war wichtiger. Er ist ein echter Wilder, das muss ich schon sagen. Ich mache mir Sorgen um den Jungen. Ich bin mir nicht sicher, dass er tatsächlich begreift, wie der Große Herr arbeitet. Nicht alles Böse ist so offensichtlich wie … die Auserwählten. Die Verlorenen, wie Ihr sie nennt.«
»Offensichtlich?«, fragte Egwene. »Die Verlorenen?«
»Nun, vergleichsweise.« Verin lächelte und wärmte die Hände an der Tasse. »Die Auserwählten sind wie ein Haufen sich streitender Kinder, jeder versucht am lautesten zu schreien und die Aufmerksamkeit seines Vaters zu erringen. Es ist leicht zu erkennen, was sie wollen: Macht über die anderen Kinder, einen Beweis, dass sie am wichtigsten sind. Ich bin davon überzeugt, dass es weder Intelligenz, Durchtriebenheit oder Fähigkeiten sind, die einen Auserwählten ausmachen – auch wenn solche Dinge natürlich wichtig sind. Nein, ich glaube, der Große Herr sucht in seinen größten Anführern vor allem nach Egoismus.«
Egwene runzelte die Stirn. Plauderten sie hier wirklich gemütlich über die Verlorenen? »Warum sollte er gerade nach dieser Eigenschaft suchen?«
»Es macht sie berechenbar. Ein Werkzeug, bei dem man sich darauf verlassen kann, dass es genau wie erwartet handelt, ist viel wertvoller als eines, das man nicht versteht. Vielleicht liegt es auch daran, dass nur die Starken überleben, wenn sie ständig gegeneinander kämpfen. Ich weiß es ehrlich nicht. Die Auserwählten sind vorhersehbar, aber der Große Herr ist das nicht. Selbst nach Jahrzehnten des Studiums kann ich mir nicht sicher sein, was er will oder warum er es will. Ich weiß nur, dass diese Schlacht nicht auf die Weise ausgetragen wird, mit der al’Thor rechnet.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Nicht viel«, erwiderte Verin und schnalzte ärgerlich auf sich selbst
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