Die Teppichvölker: Roman (German Edition)
S ie nannten sich Munrungs. Es bedeutete ›das Volk‹ beziehungsweise ›die wahren Menschen‹.
Nun, die meisten Leute nennen sich so. Irgendwann begegnet der Stamm Fremden und gibt ihnen Namen wie ›das andere Volk‹ oder, an einem schlechten Tag, ›der Feind‹. Wenn ihnen Bezeichnungen einfielen wie zum Beispiel ›noch mehr wahre Menschen‹, so käme es später zu weitaus weniger Problemen.
Was keineswegs bedeuten soll, daß die Munrungs primitiv waren. Pismire sprach in diesem Zusammenhang von einem reichen kulturellen Erbe. Damit meinte er Geschichten.
Pismire kannte alle alten Geschichten und auch viele neue. Er erzählte sie, während der ganze Stamm atemlos zuhörte und die Flammen der Abendfeuer immer kleiner wurden, bis schließlich nur noch glühende Asche übrigblieb.
Manchmal schienen selbst die großen Haare zu lauschen, die außerhalb der Dorfpalisade wuchsen. Bei solchen Gelegenheiten erweckten sie den Eindruck, sich langsam näher zu schieben.
Die älteste Geschichte war auch die kürzeste. Pismire erzählte sie nicht oft, aber der Stamm kannte sie auswendig. Es handelte sich um eine Geschichte, die man überall im Teppich erzählte, in vielen Sprachen.
»Am Anfang gab es nur eine unendliche Ebene«, verkündete Pismire. »Dann kam der Teppich und bedeckte die grenzenlose Flachheit. Damals war er noch jung. Es fehlte Staub zwischen seinen Haaren, die heute krumm und schmutzverkrustet sind – damals ragten sie glatt und gerade auf. Und zu jener Zeit war der Teppich leer.
Dann kam der Staub, fiel auf den Teppich, rieselte zwischen den Haaren herab und sammelte sich in dunklen Ecken an. Immer mehr Staub kam, glitt lautlos durch die wartenden Haare, bis er schließlich eine dicke Schicht bildete.
Und aus jenem Staub webte uns der Teppich. Zuerst entstanden die kleinen Kriecher, die in Bauen und hoch oben in den Haaren leben. Es folgten die Soraths, Schlußfadenbohrer, Bläser, Ziegen, Krustenknabberer und Snargs.
Leben und Geräusche füllten nun den Teppich. Ja, und auch Tod und Stille. Doch es fehlte ein Faden in jenem Gespinst, das der Webstuhl des Lebens hervorbrachte.
Voller Leben steckte der Teppich, aber er wußte nichts von seiner Lebendigkeit. Er konnte sein , aber er konnte nicht denken. Er hatte überhaupt keine Ahnung von der eigenen Existenz.
Und deshalb wurden wir aus dem Staub erschaffen, das Teppichvolk. Wir gaben dem Teppich seinen Namen, auch den Geschöpfen, und daraufhin war das Gespinst vollständig. Ja, von uns erhielt der Teppich seinen Namen, und so erfuhr er von sich selbst.
Selbst wenn der Schreckliche Scheuerer, Hasser allen Lebens im Teppich, auf uns herabtritt, selbst wenn Schatten über uns wachsen … Wir sind die Seele des Teppichs, und das ist eine wundervolle Sache. Wir sind die Frucht des Webstuhls.
Natürlich ist das alles nur metaphorisch, aber ich halte es für wichtig. Was meint ihr?«
A lle zehn Jahre mußten sich die Stämme des Dumii-Reiches auf den Weg machen, um gezählt zu werden – so verlangte es das Gesetz.
Sie zogen nicht bis zur Hauptstadt Wehr, sondern suchten einen Ort auf, den man Tregon Marus nannte.
Die Zählung war immer ein wichtiges Ereignis. Tregon Marus gewann schlagartig an Bedeutung und schwoll durch die vielen Zelte außerhalb des Stadtwalls auf doppelte Größe an. Ein Pferdemarkt fand statt, und man feierte ein fünf Tage lang dauerndes Fest. Man sah alte Freunde wieder und tauschte viele Neuigkeiten aus.
Hinzu kam natürlich die eigentliche Zählung. Neue Namen wurden den knisternden Schriftrollen hinzugefügt, und viele Leute stellten sich vor, wie jene Dokumente schließlich Wehr erreichten und dort bis zum Großen Palast des Gebieters gelangten. Die Dumii-Beamten notierten fleißig, wie viele Schweine, Ziegen und Bläser zum persönlichen Eigentum gehörten. Dann gingen die Leute zum nächsten Tisch, um dort mit Fellen und Häuten die Steuern zu bezahlen – diese Sache war nicht ganz so beliebt wie der Rest. Eine lange Schlange bildete sich, reichte ganz um Tregon Marus herum: am Osttor in die Stadt, durch die Ausfallpforte und vorbei an den Ställen, über den Marktplatz bis zum Zählhaus. Selbst Neugeborene trug man an den Beamten vorbei, deren Federkiele unermüdlich kritzelten und kratzten. Manche Stammesangehörige bekamen seltsame Namen, weil ein Schreiber Probleme mit der Orthographie hatte. Für so etwas hält die Geschichte überraschend viele Beispiele bereit.
Am fünften Tag
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