Das Rad der Zeit 6. Das Original: Herr des Chaos (German Edition)
einen … Ort … von dem er wusste, wie er ihn erreichen konnte, eine seltsame, unbevölkerte Spiegelung der wirklichen Welt, und dort war er über die Wehrgänge der Holzpalisaden dieser massiven Bergfestungen geschritten. Er kannte die Antworten auf beinahe alle Fragen, die er ihnen stellen wollte, doch er jonglierte Pläne innerhalb anderer Pläne wie ein Gaukler die Feuerstäbe. »Und Sammael führt immer noch mehr Soldaten heran?« Diesmal betonte er den Namen besonders. Die Mienen der Aiel veränderten sich nicht. Falls die Verlorenen frei waren, dann waren sie eben frei. Man musste die Welt sehen, wie sie war, und nicht, wie man sie zu sehen wünschte. Aber die anderen warfen ihm kurze, besorgte Seitenblicke zu. Sie würden sich früher oder später daran gewöhnen müssen. Sie würden es über kurz oder lang glauben müssen.
»Jeder Mann aus Illian, der einen Speer halten kann, ohne darüber zu stolpern, wie es scheint«, sagte Tolmeran mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck. Er war genauso heiß darauf, gegen die Illianer zu kämpfen wie jeder Tairener. Die beiden Länder hatten sich gegenseitig gehasst, seit sie aus den Überresten von Artur Falkenflügels Weltreich hervorgegangen waren, und ihre Geschichte war eine Chronik ständiger Kriege, die man aufgrund jeder überhaupt möglichen Ausrede ausgefochten hatte. Doch Tolmeran schien ein wenig realistischer zu denken als die anderen Hochlords und nicht zu erwarten, dass man jede Schlacht mit einem einzigen wuchtigen Schlag gewinnen könne. »Jeder Kundschafter, der es hierher zurück schafft, berichtet, dass diese Festungen immer größer werden und immer mächtigere Verteidigungsanlagen erhalten.«
»Wir sollten jetzt losschlagen, mein Lord Drache«, sagte Weiramon ganz energisch. »Das Licht soll meine Seele versengen, aber ich kann die Illianer jetzt noch mit heruntergelassenen Hosen erwischen. Sie haben sich selbst unbeweglich gemacht. Sie haben doch tatsächlich kaum eine nennenswerte Kavallerie! Ich werde sie zu Staub zermalmen, und dann ist der Weg zur Stadt frei.« In Illian, genau wie in Tear und Cairhien, meinte man mit der ›Stadt‹ die große Stadt, die dem Land den Namen verliehen hatte. »Seng meine Augen, ich werde Eure Flagge in einem Monat über Illian flattern lassen, mein Lord Drache. Oder höchstens in zwei.« Er blickte zu den Männern aus Cairhien hinüber und fügte so zögernd hinzu, als müsse man ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen: »Semaradrid und ich schaffen das gemeinsam.« Semaradrid verbeugte sich leicht. Oder deutete es zumindest an.
»Nein«, sagte Rand kurz angebunden. Weiramons Plan lud geradezu zu einer Katastrophe ein. Gute zweihundertfünfzig Meilen lagen zwischen ihrem Lager und Sammaels großen Bergfestungen, und dazwischen befand sich eine grasbewachsene Ebene, wo eine Erhebung von fünfzig Fuß bereits als hoher Hügel galt und ein Dickicht von ein paar Hundert Schritt Breite als Wald bezeichnet wurde. Auch Sammael besaß Kundschafter – jede Ratte, jeder Rabe konnte einer von Sammaels Spähern sein. Zweihundertfünfzig Meilen. Zwölf oder dreizehn Tage für die Tairener und die Soldaten Cairhiens, wenn sie Glück hatten. Die Aiel konnten es vielleicht bei größter Eile in fünf Tagen schaffen – ein einzelner Kundschafter oder zwei kam eben schneller vorwärts als ein Heer, sogar bei den Aiel –, aber die gehörten nicht zu Weiramons Plan. Lange bevor Weiramon überhaupt die Doirlon-Berge erreichte, wäre Sammael in der Lage, die Tairener zu vernichten, und nicht andersherum. Ein törichter Plan. Noch törichter sogar als der, den Rand ihnen vorgegeben hatte. »Ich habe Euch Befehle erteilt. Ihr haltet hier die Stellung, bis Mat ankommt und das Kommando übernimmt, und selbst dann rührt keiner einen Fuß von der Stelle, bis ich der Meinung bin, genügend Soldaten hier zu haben. Weitere Truppen sind hierher unterwegs: aus Tear, Cairhien, und auch Aiel. Ich habe vor, Sammael vernichtend zu schlagen, Weiramon. Ihn endgültig zu schlagen und Illian unter das Drachenbanner zu bringen.« So weit entsprach das durchaus der Wahrheit. »Ich wünschte ja, ich könnte bei Euch bleiben, aber noch benötigt man meine ganze Aufmerksamkeit in Andor.«
Weiramons Gesicht wandelte sich zu saurem Stein, soweit man sich so etwas vorstellen kann, und Semaradrids Grimasse hätte eigentlich den Wein augenblicklich in Essig verwandeln sollen, während Tolmerans Miene derart ausdruckslos war, dass seine
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