Das Rad der Zeit. Das Vermächtnis des Don Juan
unsere Erkenntnis der Welt zusammengebaut wird. So seltsam es klingt, Don Juan Matus hatte Recht, insofern genau dies tatsächlich passiert. Die Wahrnehmung von Schamanen war also von anderen Vorgängen bestimmt als die Wahrnehmung gewöhnlicher Menschen. Die Schamanen behaupteten, dass die unmittelbare Wahrnehmung von Energie sie zu Einsichten geführt habe, die sie energetische Tatsachen nannten. Unter einer energetischen Tatsache verstanden sie eine durch direktes Wahmehmen von Energie gewonnene Einsicht, die wiederum zu endgültigen, nicht weiter ableitbaren Schlussfolgerungen führte; an diesen war nicht zu rütteln, weder durch theoretische Spekulation noch durch den Versuch, sie in unser normales Interpretationssystem einzufügen.
Für die Schamanen seiner Tradition, sagte Don Juan, war es eine energetische Tatsache, dass die uns umgebende Welt durch kognitive Vorgänge definiert ist und dass diese Vorgänge nicht unabänderlich sind; sie sind keine Gegebenheiten. Sie sind Sache der Ausbildung, Übung und Anwendung. Dieser Gedanke wurde weitergeführt, zu einer weiteren energetischen Tatsache: Die Vorgänge der normalen Kognition sind das Produkt unserer Erziehung, mehr nicht. Don Juan Matus wusste ohne jeden Zweifel, dass alles, was er mir über das kognitive System der Schamanen im alten Mexiko erzählte, Realität war. Don Juan war - unter anderem - ein Nagual, was für schamanistische Praktiker so viel bedeutet wie ein natürlicher Führer, eine Person, die fähig ist, energetische Tatsachen ohne Nachteil für ihr Wohlergehen zu erkennen. Er war daher befähigt, seine Mitmenschen erfolgreich auf neue Bahnen des Denkens und der Wahrnehmung zu führen, die mit Worten nicht zu beschreiben sind.
Angesichts aller Fakten, die Don Juan mich über seine kognitive Welt gelehrt hatte, kam ich zu dem Schluss, den auch er teilte, dass das wichtigste Element einer solchen Welt die Idee des absichtlichen Wollens sei. Für die Schamanen des alten Mexiko war das Wollen eine Kraft, die sie visualisieren konnten, wenn sie Energie im Universum fließen sahen. Sie betrachteten es als alles durchdringende Kraft, die in jeden Aspekt von Zeit und Raum einwirkte. Es war die Triebkraft, die hinter allem steht; von überragender Bedeutung war aber für diese Schamanen der Umstand, dass das Wollen - ein rein abstrakter Begriff - in engster Verbindung mit dem Menschen stand. Der Mensch konnte es immer manipulieren. Die Schamanen des alten Mexiko erkannten, dass die einzige Möglichkeit, diese Kraft zu beeinflussen, in einem makellosen Verhalten bestand. Nur der disziplinierteste Praktiker konnte sich an dieses Unterfangen wagen.
Ein weiteres verblüffendes Element dieses erstaunlichen kognitiven Systems war die Art, wie die Schamanen die Begriffe Zeit und Raum verstanden und benutzten. Für sie waren Zeit und Raum nicht die gleichen Phänomene, wie sie Teil unseres Lebens sind, da sie einen wesentlichen Bestandteil unseres normalen kognitiven Systems bilden. Für den gewöhnlichen Menschen lautet die Standard- Definition von Zeit: »Ein nicht räumliches Kontinuum, in welchem Ereignisse in anscheinend irreversibler Reihenfolge stattfinden, von der Vergangenheit über die Gegenwart bis zur Zukunft. « Und Raum ist definiert als »die unendliche Ausdehnung des dreidimensionalen Feldes, in welchem Sterne und Galaxien existieren; das Universum«.
Für die Schamanen des alten Mexiko war Zeit so etwas wie ein Gedanke - ein Gedanke, gedacht von etwas in seiner Größe Unerkennbarem. Die logische Schlussfolgerung war für sie also, dass der Mensch, weil er Teil dieses Gedankens war, der von für seinen Verstand unbegreiflichen Kräften gedacht wurde, gleichwohl einen kleinen Prozentsatz dieses Gedankens besaß - einen Prozentsatz, den man unter bestimmten Voraussetzungen einer außerordentlichen Disziplin wohl einlösen konnte.
Der Raum war für diese Schamanen eine abstrakte Sphäre der Aktivität. Sie nannten ihn Unendlichkeit und meinten damit die Summe des Strebens aller lebenden Geschöpfe. Der Raum war ihnen also eher zugänglich, etwas beinahe Profanes. Es war, als hielten sie einen größeren Prozentsatz an der abstrakten Formulierung des Raumes. Don Juans Darstellung zufolge betrachteten die Schamanen des alten Mexiko Zeit und Raum nie als undurchschaubare Abstraktionen, wie wir es tun. Für sie waren Zeit und Raum, wiewohl unbegreiflich in ihrer Formulierung, integraler Bestandteil des Menschen. Diese Schamanen kannten noch
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