Das Rätsel der Fatima
Notaufnahme.
»Ach«, erwiderte er mit einer Stimme, die gut zu seinem langsamen Gang passte, »so schlimm war das nicht. Der MR-Befund vom Knie des Fußballspielers war doch sehr interessant.«
»Findest du?«, fragte Beatrice und strich sich müde das Haar aus dem Gesicht. »Ich kann mich nicht erinnern, dass überhaupt ein Befund erhoben wurde.«
»Doch, doch, da war eine leichte Signalanhebung im Bereich des rechten Meniskus-Vorderhorns und…«
»Schön und gut«, unterbrach Beatrice den Vortrag, bevor Frank zu weit ausholen konnte. Jeder Pjler, wie die Studenten im praktischen Jahr genannt werden, musste vier Monate in der inneren Medizin, vier Monate in der Chirurgie und vier Monate in einer Fachrichtung seiner Wahl arbeiten, bevor er die letzte Prüfung, das dritte Staatsexamen, ablegen konnte. Beatrice wusste, dass Frank sich für die Radiologie entschieden hatte. Daher auch die Begeisterung für den Bilderreigen. Natürlich verteidigte er sein Wahlfach, und sicherlich wusste er mehr über alle Untersuchungsmethoden, als sie jemals wissen würde. Aber unter gar keinen Umständen konnte sie noch mehr radiologische Details vertragen; nicht jetzt, nicht so kurz nach der Röntgenvisite. »Aber hat uns die Kernspintomographie vom Knie wirklich einen Vorteil gebracht? Ich bin nicht der Ansicht. Um zu erfahren, ob ein Meniskusschaden vorliegt oder nicht, wird der junge Mann nun doch arthroskopiert werden müssen.«
»Aber es wäre ja möglich gewesen, dass sie einen eindeutigen Befund ergeben hätte«, widersprach Frank.
»Natürlich, möglich ist alles«, sagte Beatrice. »Meiner Erfahrung nach kann man jedoch nur dann einen eindeutigen Befund im Kernspin erwarten, wenn der Meniskus gerissen oder überhaupt kein Schaden da ist. Dann liegen aber auch entsprechende klinische Zeichen vor, die eigentlich jedem Dummkopf bei der körperlichen Untersuchung des Patienten auffallen müssten. Wenn alle Ärzte die körperliche Untersuchung und die ausführliche Anamnese richtig einsetzen würden, ließen sich viele kostspielige Untersuchungen vermeiden, und unser kollabierendes Gesundheitssystem wäre aus dem Schneider.«
»Aha. Stammt diese Weisheit von dir?«, fragte Frank und blinzelte träge. Für einen Moment glaubte Beatrice leichten Spott gehört zu haben.
»Nein, von Professor Linhardt. Leider ist er mittlerweile emeritiert. Er war…« Sie brach ab, schüttelte gereizt den Kopf und seufzte. Wozu redete sie überhaupt? Frank gehörte ohne Zweifel zu den Studenten, die sich nicht mehr vorstellen konnten, dass eine medizinische Versorgung ohne Apparate und Labor möglich war, dass ein Arzt allein mit seinen fünf Sinnen fast jede Krankheit diagnostizieren konnte. Und diese Einstellung würde er vermutlich auch als Arzt nicht ablegen, es sei denn, es verschlug ihn aus unerfindlichen Gründen in den Dschungel oder in die Wüste – oder in das Mittelalter…
Beatrices Gedanken wanderten automatisch zu Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, jenem berühmten arabischen Arzt aus dem Mittelalter, der später nur Avicenna genannt wurde. Sie hatte sich im Laufe der letzten Monate eingehend mit seinem Leben und Werk beschäftigt. Ali al-Hussein hatte zu seiner Zeit keine modernen diagnostischen Hilfen zur Verfügung gehabt. Dennoch war er ein exzellenter Arzt gewesen, der die medizinische Entwicklung im Mittelalter entscheidend beeinflusst hatte. Sie bewunderte und verehrte ihn dafür. Doch wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn nicht als den älteren, erhabenen Mann vor sich, als der er auf zeitgenössischen Bildern dargestellt wurde. In ihrer Vorstellung war er jung, getrieben von dem Ehrgeiz, das zu erreichen, was er später auch tatsächlich geschafft hatte – der berühmteste Arzt des arabischen Raums zu werden. Ali al-Hussein… Die Gedanken an ihn taten weh. Beatrice schüttelte sich, um sein Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben.
Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme, dachte sie.
Doch als sie endlich auf der Notaufnahme war, standen schon Heinrich und vier Schwestern bereit, als ob sie auf etwas warten würden. Sie trugen Handschuhe und Schürzen aus dünner Plastikfolie über ihrer weißen Kleidung. Von einem Augenblick zum anderen löste sich Beatrices Vorfreude über den baldigen Feierabend in Nichts auf. Sie warf einen verzweifelten Blick auf das rote Telefon, das unübersehbar wie ein riesiger Blutfleck an der Wand klebte. Wenn dieser Apparat klingelte, wurden Notarztwagen angekündigt. Und die brachten meist
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