Die 500 (German Edition)
Prolog
D er Range Rover stand auf der anderen Straßenseite. Mirosla v und Aleksandar saßen vorn. Sie trugen die branchen übliche diskrete Uniform – dunklen, taillierten Brioni. Aber die beiden Serben sahen bedrohlicher aus als sonst. Aleksandar hob die rechte Hand gerade hoch genug, dass ich seine Sig Sauer sehen konnte. Ein Meister der Finesse, dieser Alex. Trotz dem bereiteten mir die beiden Schläger keine allzu großen Sor gen. Sie konnten mich umbringen, das war das Schlimmste, was sie mir antun konnten, und im Augenblick hielt ich das für eine meiner besseren Optionen.
Das hintere Wagenfenster glitt nach unten, und ich sah Rado, der mich zornig anstarrte. Er bevorzugte, Drohungen mithilfe einer Serviette zu kommunizieren. Behutsam tupfte er seine Mundwinkel ab. Man nannte ihn König der Herzen, weil er, nun ja, er verspeiste die Herzen von Menschen. Soweit ich wusste, hatte er im Economist einen Artikel über einen neunzehnjährigen Warlord aus Liberia gelesen, der eine Vorliebe für Menschenfleisch hatte. Rado kam zu dem Schluss, dass diese Art von abscheulicher Bösartigkeit seiner kriminellen Marke den Wettbewerbsvorteil verschaffen würde, den er auf einem überlaufenen Weltmarkt brauchte. Also übernahm er die Angewohnheit.
Nicht mal der Gedanke daran, dass er sich an meinem Herz gütlich tun könnte, bereitete mir allzu große Sorgen. Das ist in der Regel tödlich, und wie ich schon sagte, es hätte meine Zwangslage deutlich verbessert. Das Problem war, dass er über Annie Bescheid wusste. Angesichts der Möglichkeit, dass durch meine Schuld noch ein weiterer geliebter Mensch getötet werden könnte, erschien mir Rados Kochtopf als bequemer Ausweg.
Ich nickte Rado zu und setzte mich in Bewegung. Es war ein herrlicher Maimorgen in der Hauptstadt des Landes. Der Himmel leuchtete wie blaues Porzellan. Das Blut, das mein Hemd durchnässt hatte, begann zu trocknen. Der Stoff wurde steif und kratzig. Mein linker Fuß schleifte über den Asphalt. Mein Knie war auf die Größe eines Rugbyballes angeschwol len. Ich versuchte trotzdem mich darauf zu konzentrieren, um nicht an die Wunde in meiner Brust denken zu müssen. Hätte ich das getan – nicht so sehr wegen der Schmerzen, son dern weil sie so grausig war –, ich wäre ohnmächtig geworden. Da war ich mir sicher.
Das Bürogebäude sah so nobel aus wie immer: eine vierstöckige Villa im Federal Style, die zwischen Botschafts- und Gerichtsgebäuden verborgen in den parkähnlichen Wäldern von Kalorama lag. Es beherbergte die Davies Group, Washingtons angesehenstes Unternehmen für strategische Beratung und Regierungsangelegenheiten, bei dem ich – so meine Vermutung – eigentlich immer noch hätte angestellt sein müssen. Ich holte meine Schlüssel aus der Tasche und fuchtelte damit vor einer grauen Konsole neben dem Türschloss herum. Zutritt verweigert.
Aber Davies erwartete mich schon. Ich schaute hoch zur Überwachungskamera. Das Schloss summte.
Im Foyer begrüßte ich den Sicherheitschef. Mir fiel auf, dass er seine Baby Glock aus dem Halfter gezogen hatte und dicht neben den Oberschenkel hielt. Dann drehte ich mich zu Marcus um, meinen Boss, und sagte Hallo. Er stand auf der anderen Seite des Metalldetektors, winkte mich durch und filzte mich von Kopf bis Fuß. Er suchte nach Waffen und nach Wanzen. Mit diesen Händen, Mörderhänden, hatte Marcus sich eine ganz schön steile Karriere aufgebaut.
»Ausziehen«, sagte Marcus. Gehorsam zog ich Hemd und Hose aus. Sogar Marcus zuckte zusammen, als er auf meiner Brust die faltige Haut rund um die Heftklammern sah. Er warf noch einen kurzen Blick in meine Unterhose, dann schien er davon überzeugt zu sein, dass ich nicht verwanzt war. Ich zog mich wieder an.
»Der Umschlag«, sagte er und zeigte auf das braune Kuvert, das ich in der Hand hielt.
»Erst wenn der Deal unter Dach und Fach ist«, sagte ich. Da der Umschlag das Einzige war, was mich am Leben hielt, erschien es mir vernünftiger, ihn nicht aus der Hand zu geben. »Wenn ihr mich verschwinden lasst, macht das die Runde.«
Marcus nickte. Diese Art von Versicherung war übliche Praxis in der Branche. Das hatte er mir selbst beigebracht. Er führte mich nach oben zu Davies’ Büro und bezog vor der Tür Position. Ich ging hinein.
Allein dieser Mann, der da am Fenster stand und hinunter auf Downtown Washington DC schaute, machte mir Sorgen. Er verkörperte die Option, die mir weit übler erschien, als von Rado zerstückelt zu werden –
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