Das Reich der Schatten
zerstreut.
Erst jetzt nahm Lena die beiden anderen Reiter richtig wahr. Es handelte sich um Maredd und einen weiteren Mann, der ihm auf den ersten Blick ähnlich sah. Auch er hatte silbergraues Haar, das zu einemPferdeschwanz zusammengebunden war. Doch sein Gesicht wirkte mit den buschigen Augenbrauen und einer wulstigen Narbe an der Stirn düsterer und kantiger als das von Maredd. Sein breiter Mund, der von einem kurzen Bart umrahmt wurde, zeigte jedoch nun ein Lächeln.
»Sei gegrüßt, Lena. Mein Name ist Etron.« Dann blickte er in den Himmel. »Graha hat uns deine Ankunft mitgeteilt.«
Lena sah ebenfalls nach oben. Sie vermutete, dass Etrons Bussard der gleiche war, den Maredd erst vor Kurzem auf die Suche nach seinen Freunden geschickt hatte. Das Tier bewegte sich in eleganten Kreisen aus den Lüften herab, um auf Etrons Schulter zu landen. Kluge, dunkle Augen blickten Lena an, dann stieß der Bussard einen leisen Ruf aus und rieb seinen Kopf an Etrons Wange.
Dieser schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Nein, ist sie nicht, mein Freund.«
Was sollte denn diese Frage? Lena runzelte die Stirn, während Maredd sich zu dem Vogel drehte.
»Sie ist nicht unhöflich, Graha. Sie ist es nur nicht gewohnt, mit Tieren zu kommunizieren. Lena, Graha hat sich dir vorgestellt, und er ist enttäuscht, weil du es ihm nicht gleichgetan hast«, erklärte Maredd.
»Richtig«, stimmte Etron zu.
Mit einem leisen Lachen drückte Ragnar Lenas Schulter. »Keine Sorge, auch für mich war das anfangs fremd. Wenn ein Tuavinn ein Tier als Anam Cara hat, kann er in Gedanken mit ihm sprechen, und auch andere Tuavinn sind dazu in der Lage, wenn die Seelenfreundschaft lange genug besteht.«
»Wow, das ist unfassbar!«
»Lena ist ein Mensch, es wird eine Weile dauern, bis sie sich an Elvancors Wunder gewöhnt hat.« Eine schlanke Frau mit dunkelbraunem, glattem Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte, sprang aus dem Sattel. »Bei meinen ersten Besuchen habe ich mich über vieles gewundert. Heute weiß ich, dass das Gehirn der Tuavinn weiter ausgereift ist als ein menschliches. Zudem unterscheiden sich die Gesetze Elvancors von der Welt, die Lena, Ragnar und ich kennen. Aber inzwischen bin ich ein Teil dieses Landes, und alles ist ganz selbstverständlich geworden.« Auch die Frau umarmte sie. Anschließend musterte sie Lena aus diesen graublauen Augen, die ihr seltsam vertraut vorkamen.
»Es ist schön, dich wiederzusehen.«
»Ich kenne dich nicht, trotzdem glaube ich, dich schon irgendwo mal getroffen zu haben«, meinte Lena verblüfft. Forschend betrachtete sie das Gesicht der Frau, die sie abwartend und mit einem beinahe liebevollen Lächeln ansah.
»Du weißt, wer ich bin, Lena.«
»Nein … ich …« Auf einmal sog sie scharf die Luft ein, schüttelte heftig den Kopf, blickte zu Maredd, dann zu Ragnar, der ihr aufmunternd zunickte.
»Frau Winter?«
»Du kannst mich gerne Amelia nennen.«
»Das gibt’s doch nicht … Sie sind … Sie wirken so … Ich meine, Sie sind wirklich hübsch – und so jung!«
Ein helles Lachen entstieg Amelias Kehle. Ein Grübchen bildete sich an ihrer rechten Wange, und sie fuhr sich durch ihre Haare. »Ich habe dir erzählt, dass ich hier wieder jung sein kann. Wer mit dem Verlassen seines Körpers den endgültigen Schritt nach Elvancor macht, nimmt in der Regel die körperliche Form an, die ihm in der anderen Welt am liebsten oder am vertrautesten war. So wie ich jetzt vor dir stehe, habe ich mit Ende zwanzig ausgesehen.«
Voller Staunen riss Lena die Augen auf und hatte das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein.
»Und ich?« Sie betastete ihr Gesicht. »Wie sehe ich aus?«
»So, wie ich dich gekannt habe«, erklärte Amelia geduldig. »Du bist lediglich zu Besuch hier und hast daher die körperliche Gestalt beibehalten, die du auch tatsächlich besitzt. Wärst du in der anderen Welt gestorben und nach Elvancor gekommen, wäre es möglich gewesen, dass du eine andere Gestalt annimmst, beispielsweise die deiner Kinderzeit. Doch bei jungen Erwachsenen wie dir ist auch das selten der Fall.«
Für Lena war das alles sehr verwirrend, und sie musterte Ragnar. »Er sieht auch anders aus«, stellte sie fest.
»Man kann sich durchaus verändern und weiterentwickeln, hier in Elvancor«, bemühte sich Amelia um eine Erklärung. Liebevoll streichelte sie ihrem Enkel über die Wange. »Ragnar ist nun schon eine ganze Weile hier, und bei den jungen Tuavinn ist es Tradition, sich die magischen
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