Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
KAPITEL EINS
Im Winter meines sechzehnten Lebensjahrs kam meine Mutter zu dem Schluss, dass ich Depressionen hatte, wahrscheinlich, weil ich kaum das Haus verließ, viel Zeit im Bett verbrachte, immer wieder dasselbe Buch las, wenig aß und einen großen Teil meiner reichlichen Zeit damit verbrachte, über den Tod nachzudenken.
In jeder Krebs-Broschüre oder Website oder Infoseite zu dem Thema werden Depressionen als Nebenwirkung von Krebs genannt. Doch in Wirklichkeit sind Depressionen keine Nebenwirkung von Krebs. Depressionen sind eine Nebenwirkung des Sterbens. (Auch Krebs ist eine Nebenwirkung des Sterbens. Eigentlich ist fast alles eine Nebenwirkung des Sterbens.) Aber meine Mutter glaubte fest, dass ich eine Therapie brauchte, und deshalb brachte sie mich zu meinem Hausarzt Dr. Jim, der ihr bestätigte, dass ich bis zum Hals in einer lähmenden und absolut klinischen Depression steckte und dass meine Medikamente neu eingestellt werden müssten und ich außerdem einmal die Woche eine Selbsthilfegruppe besuchen solle.
Die Selbsthilfegruppe bestand aus einer wechselnden Besetzung von Jugendlichen in verschiedenen Stadien des tumorbedingten Unwohlseins. Warum wechselte die Besetzung? Noch so eine Nebenwirkung des Sterbens.
Natürlich war die Selbsthilfegruppe wahnsinnig deprimierend. Sie fand im kreuzförmigen Keller einer backsteingemauerten Episkopalkirche statt. Einmal die Woche setzten wir uns in einem Kreis in der Mitte des Kreuzes zusammen, an der Stelle, wo sich im übertragenen Sinn die beiden Balken überschnitten, also da, wo Jesus’ Herz gewesen wäre.
Der Gedanke kam mir, weil Patrick, der Leiter der Selbsthilfegruppe und der Einzige über achtzehn in der Runde, bei jedem einzelnen blöden Treffen von Jesus’ Herzen redete und davon, dass wir als Krebskinder direkt in Jesus’ superheiligem Herzen wohnten und so weiter.
Und so lief es ab in Jesus’ Herzen: Wir sechs oder sieben oder zehn Teilnehmer kamen bzw. rollten herein, bedienten uns an einem dürftigen Buffet mit Keksen und Limonade, setzten uns in den »Kreis des Vertrauens« und hörten zu, wie Patrick zum tausendsten Mal seine deprimierende Lebensgeschichte abspulte – wie er als Kind Krebs in den Eiern gehabt hatte und alle dachten, er würde sterben, aber er ist nicht gestorben, und jetzt war er hier, als erwachsener Mann in einem Kirchenkeller in der 137.-schönsten Stadt Amerikas, geschieden, videospielsüchtig, weitgehend freundlos, und verdiente seinen mageren Lebensunterhalt, indem er seine krebslastige Vergangenheit ausschlachtete, während er nebenbei auf einen Uni-Abschluss hinarbeitete, der seine Karrierechancen nicht verbessern würde, und wie wir alle darauf wartete, dass das Damoklesschwert endlich niedersauste und ihm die Erlösung verschaffte, die ihm vor all den Jahren versagt geblieben war, als der Krebs ihm beide Eier nahm, aber das ließ, was nur die barmherzigste Seele ein Leben nennen würde.
UND DU HAST VIELLEICHT AUCH SO VIEL GLÜCK!
Dann stellte sich jeder von uns vor: Name. Alter. Diagnose. Und wie es uns heute so ging. Ich bin Hazel, sagte ich, wenn ich an die Reihe kam. Sechzehn. Ursprünglich Schilddrüse, aber mit umfänglichen und hartnäckigen Metastasen in der Lunge. Und es geht mir ganz gut heute.
Wenn wir einmal durch waren, fragte Patrick, ob sich jemand der Gruppe mitteilen wollte. Und dann ging es los mit der Selbsthilfe: Alle redeten von Kämpfen und Siegen, vom Schrumpfen und vom Scannen. Um fair zu sein, Patrick ließ uns auch vom Sterben reden. Aber die meisten der anderen starben nicht. Die meisten würden wie Patrick erwachsen werden.
(Was dazu führte, dass unter uns ein ziemlicher Konkurrenzkampf herrschte, denn wir alle wollten nicht nur den Krebs besiegen, sondern auch die anderen in der Gruppe. Mir ist klar, dass es völlig irrational ist, aber wenn du gesagt bekommst, du hast eine – sagen wir – zwanzigprozentige Chance, noch fünf Jahre zu leben, dann fängst du automatisch zu rechnen an und rechnest dir aus, dass damit einer von fünf gemeint ist … also siehst du dich um und denkst wie jeder gesunde Mensch: Ich muss vier von den armen Schweinen hier überleben.)
Der einzige Lichtblick in der Selbsthilfegruppe war ein Junge namens Isaac, ein schlaksiger Typ mit langem Gesicht und glattem blondem Haar, das ihm über ein Auge fiel.
Und die Augen waren sein Problem. Er hatte diesen abartig seltenen Augenkrebs. Ein Auge hatten sie ihm rausgenommen, als er noch klein war,
Weitere Kostenlose Bücher