Das schwarze Messer
Namen der Freudenmädchen und Bewertungen ihrer körperlichen Vorzüge sowie ihrer Leistungen auf dem Futon ) hatten ebenso dazugehört wie Spaziergänge an einsamen Flüssen (inklusive Wetterbericht und beobachteten Tieren), Bridgeabende mit damaligen Kollegen (komplett mit Spielergebnissen und, vor allem, den dabei aufgeschnappten Insiderinformationen, die ihm später helfen sollten, zu entscheiden, in welche japanischen Firmen er investieren wollte) ebenso wie Ausflüge, um seine Kenntnisse über Land und Leute zu vertiefen. Im Zug eines solchen Ausflugs war er auf den Schrein Seitou-Jinjya gestoßen, und über ihn hatte er geschrieben : Wäre eine wunderschöne Parkanlage ohne den vielen alten Krempel, den sie hier aufbewahren .
Genau diese Bemerkung hatte für Alain Whitstock II. den Ausschlag gegeben, ausgerechnet hierher zu kommen.
Seinen Informationen zufolge war heute der einzige Tag in diesem Monat, an dem der Schrein ausdrücklich für Touristen geöffnet war; an den anderen Tagen hatten nur die Gläubigen Zutritt und auch nur zur Gebetshalle.
Dafür, fand Alain, war verdammt wenig los. Er hatte das Gelände praktisch für sich.
Umso besser. Er legte seine Hand auf eines der Tore, die es zu durchschreiten galt, schloss die Augen und fühlte befriedigt der Schwere nach, die das nasse Holz ausstrahlte. Dieses Gefühl! Er liebte es, seit er denken konnte. Jahrelang hatte er geglaubt, religiös zu sein, weil er so gerne in die Kirche gegangen war, doch irgendwann war ihm aufgegangen, dass das mit Gott überhaupt nichts zu tun hatte. Es war das archaische Gebäude selbst gewesen, das ihn angezogen hatte, die uralten Steine der Mauern und die betagten Statuen, Betstühle und Kreuze darin. Alte Dinge waren irgendwie ... realer. Sie strahlten eine warme, wohltuende Schwere aus, die ihm das tröstliche Empfinden gab, in der Welt verankert zu sein. Alain wäre nicht so weit gegangen zu behaupten, dass dieses Gefühl besser sei als Sex, doch er hätte eher auf Sex verzichten können als darauf.
Das war ständiger Anlass zum Streit mit seinem Vater gewesen.
Alain wäre zum Beispiel gerne auf eines der altehrwürdigen Internate gegangen, nach Eton am liebsten. Nicht, weil er so versessen auf Bildung war, sondern weil er sich in den alten Mauern wohlgefühlt hätte. Und so reich, wie sein Vater damals schon war, wäre das überhaupt kein Problem gewesen. Aber nein, er hatte nach Crestwave gehen müssen, in eine supermoderne Anstalt, die sich zukunftsweisenden pädagogischen Konzepten verschrieben hatte. Dort hatten sie in dünnwandigen, verwirrenden Gebäuden gehaust, aus innovativsten Baustoffen von einem supermodernen Architekten errichtet. So fortschrittlich war das Ganze gewesen, dass es inzwischen schon nicht mehr existierte.
Damals hatte Alain angefangen, Museen und historische Stätten aufzusuchen, mit denen England glücklicherweise reich gesegnet war. Seine alte Kirche hatte sich in jenen Tagen bereits abgenutzt gehabt: Das war das Problem mit diesem Gefühl. Am stärksten war es, wenn er einen alten Gegenstand das erste Mal in die Hand nahm, und es hielt umso länger vor, je älter der Gegenstand war.
Deswegen hatte er nach dem Tod seines Vaters angefangen, alte Dinge zu kaufen, und deswegen war es nötig, immer noch mehr alte Dinge zu kaufen.
Objekte aus dem viktorianischen Zeitalter strahlten nur ein paar Tage; es lohnte sich kaum, dafür Zeit in Antiquariaten zu verbringen. Das Mittelalter brachte mehr; Wochen, manchmal Monate. Richtig stark wirkten Artefakte aus der Steinzeit: Speerspitzen, Faustkeile, Knochenschmuck und dergleichen. Das Problem war nur, dass man derartige Dinge so gut wie nie legal beschaffen konnte. In den meisten Ländern waren Erwerb und Ausfuhr archäologischer Fundstücke schwere Verbrechen.
Das stellte kein unüberwindbares Hindernis dar, wenn man genug Geld zur Verfügung hatte. Und das hatte er. Mehr noch, es bereitete ihm eine tiefe Befriedigung, es für Zwecke auszugeben, die sein Vater für reine Verschwendung gehalten hätte.
Aber verschwendet, so musste Alain feststellen, nachdem er eine Stunde lang durch die Gebetshalle, über den Vorplatz und unter allerlei Toren hindurchgeschlendert war, schien seine Zeit auch hier zu sein. So alt konnte dieser Schrein noch nicht sein; möglich, dass man ihn erst nach dem Krieg errichtet hatte. Selbst die diversen kultischen Gegenstände, soweit er Gelegenheit gehabt hatte, sie zu berühren, fühlten sich nicht gehaltvoller an
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