Das schwarze Messer
das blendete alle anderen Gedanken aus.
Der Gaijin war völlig aufgebracht. Er redete auf Tanjirō ein, stammelte geradezu, mit einer Stimme, die sich beinaheüberschlug. Tanjirō war sich seiner Englischkenntnisse nicht sonderlich sicher, aber der Mann fuchtelte ihm mit dem Messer vor dem Gesicht herum, und das, was er von sich gab, ließ sich nicht anders interpretieren, als dass er das Heiligtum allen Ernstes kaufen wollte!
»Tut mir leid«, sagte Tanjirō und nahm ihm das Schwarze Messer aus der Hand. »Das Inventar des Schreins steht nicht zum Verkauf.«
Wie kam der Mann bloß auf die Idee ? War es in den Kirchen des Westens etwa üblich, Altargegenstände und Reliquien an Touristen zu verkaufen? Seines Wissens nicht.
»Ich zahle, was Sie wollen!«, flehte der Mann, der vierzig oder fünfzig Jahre alt sein mochte, das war schwer zu schätzen bei den Westlern. »Mit dem Geld könnten Sie ... was Sie wollen ... Gutes tun! «
Tanjirō musste an sich halten, nicht unhöflich zu werden. Dass ihm die dafür erforderlichen englischen Worte nicht einfielen, half.
»Das Messer«, zitierte er stattdessen aus dem Text der englischsprachigen Broschüre, die an Besuchstagen beim Eingang ausgelegt wurde, »gehörte Jimmu, dem ersten Kaiser Japans. Es ist ein sehr rares Exemplar, hergestellt aus Obsidian und mindestens dreitausend Jahre alt.« Dass sich Tanjirōs sämtliche Vorgänger im Amt des Kannushi erfolglos den Kopf über die wahre Herkunft und Bedeutung des Schwarzen Messers zerbrochen hatten, tat hier nichts zur Sache.
Der Mann schien ihm kaum zuzuhören. »Sagen Sie einen Preis!«, rief er, die Hände begehrlich ausstreckend.
Tanjirō barg das Heiligtum in den weiten Ärmeln seines Kariginu und erklärte: »Es ist nicht verkäuflich. Bitte gehen Sie.«
Der Mann sah ihn fassungslos an. Sein Atem ging rasch. »Sie ...«, begann er und schien nach Worten zu suchen. »Sie sind doch …«
Dann sackte er urplötzlich in sich zusammen und bekam einen glasigen Blick. Tanjirō musterte ihn aufmerksam, ohne sich einen Reim auf sein Verhalten machen zu können. Würde der Mann ihn jetzt beschimpfen? Nein. Er sah ihn nicht einmal mehr an. Die Schultern eingezogen, den Kopf gesenkt, zog er ab, eine dünner werdende Schlammspur hinterlassend.
Wo war sein gewohntes Geschick in Verhandlungen geblieben? Das fragte sich Alain Whitstock II., als er sich, während er auf die Ankunft des Taxis wartete, notdürftig die Schuhe reinigte. Er tat es mit einem monogrammbestickten Taschentuch, das ursprünglich seinem Vater gehört hatte und das er danach angeekelt wegwarf.
Sein Vater. Das war es. Daran hatte es gelegen. Der Abt – oder wie auch immer man das hier nannte – hatte ihn einfach zu stark an seinen Vater erinnert, und das hatte ihn konfus werden lassen. DieserMann hatte dieselbe Art an den Tag gelegt, ihm klarzumachen, dass seine Wünsche keine Rolle spielten. Dass sie ihn nicht beeindruckten. Dieselbe Art, das, was er wollte, abzutun, als sei er der unwichtigste Mensch auf Erden.
»Es ist nicht verkäuflich. Bitte gehen Sie.«
Genau. Genau so hatte ihn sein Vater auch immer abgebügelt.
»Mein Sohn«, hatte er gesagt, »geht nicht nach Eton .« Mehr an Diskussion hatte nicht stattgefunden. Und das Wort Eton hatte er ausgesprochen, als handele es sich um den Namen einer Geschlechtskrankheit.
Das Taxi kam. Der Fahrer zögerte, als er Alains feuchte Hosen und die Schuhe sah.
Alain seufzte. »Ich zahle einen Aufpreis«, erklärte er, Wort für Wort betonend. »Für die Reinigung des Wagens.«
Also. Mit Geld ließ sich doch alles irgendwie regeln, dachte Alain, während er vom Fond des Taxis aus die engen Gassen betrachtete, durch die siefuhren. Es wimmelte von Fußgängern und Radfahrern, jede Begegnung mit einem anderen Fahrzeug stellte ein verkehrstechnisches Drama dar. Verglichen damit waren die schmalen Straßen des ländlichen England die reinsten Autobahnen.
Alain musste wieder an den Abt denken, wieder an seinen Vater. Er fragte sich, ob ihn womöglich dessen Geist verfolgte, weil er sein über alles geliebtes Geld für lauter sinnlose Dinge ausgab.
Dann dachte er wieder an das Messer. An das unglaublich starke Gefühl , das es ihm verschafft hatte.
Absolut unglaublich.
Ausgeschlossen, so schnell aufzugeben. Nun ging es um mehr als eine alberne kleine Rache an einem Toten. Dies war der Zeitpunkt, zur Abwechslung mal Geld für sinn volle Dinge auszugeben.
Alain zog sein Telefon aus der Tasche und
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