Das Siegel der Tage
rutschten ihr von den Füßen, aber für uns stand fest, daß sie nie schöner gewesen war. Die gesamte Sippe war gekommen, um sie zu feiern, und einmal mehr wurde mir klar, daß man in einem Notfall alles über Bord wirft, was man nicht unbedingt braucht, also fast alles. Am Ende, wenn man sich aller Last entledigt hat und schaut, was bleibt, ist nur noch Zuneigung übrig.
Zeit zum Ausruhen
Es ist Dezember geworden, und für unsere Sippe und das Land sieht manches anders aus. Tabra ist nach Bali gegangen; meine betagten Eltern erleben in Chile die Dreingabe, sie sind fünfundachtzig und neunzig Jahre alt; Nico ist vierzig geworden, endlich, sagt Lori, er ist ein reifer Mann; die Enkel stecken bis über beide Ohren in der Pubertät, und bald werden sie sich von dieser besitzergreifenden Großmutter lösen, die sie noch immer »meine Kinder« nennt. Olivia hat graue Haare bekommen und überlegt es sich zweimal, ob sie den Hügel hinaufrennen soll, wenn wir mit ihr nach draußen gehen. Willie ist mit seinem zweiten Buch fast fertig, und ich grabe für dieses noch immer den harten Boden der Erinnerungen um. Die Demokraten haben die Kongreßwahlen gewonnen und jetzt im Repräsentantenhaus und im Senat die Mehrheit; alle hoffen, daß sie Bush an die Kandare nehmen, daß die amerikanischen Truppen den Irak verlassen, und sei es nach und nach und wie geprügelte Hunde, und daß weitere Kriege vermieden werden. Auch in Chile gibt es Neuigkeiten: Im März hat Michelle Bachelet das Präsidentenamt übernommen, als erste Frau in der Geschichte meines Landes, und sie macht ihre Sache sehr gut. Sie ist Chirurgin, Kinderärztin, Sozialistin, alleinerziehende Mutter, Agnostikerin und die Tochter eines Generals, der unter der Folter starb, weil er sich den Putschisten von 1973 nicht beugen wollte. Außerdem ist General Pinochet gestorben, seelenruhig in seinem Bett, und eines der tragischsten Kapitel der Geschichte des Landes hat damit ein Ende gefunden. Mit sicherem Gespür für den richtigen Zeitpunkt starb er genau am Internationalen Tag der Menschenrechte.
Dieses Buch zu schreiben war eine merkwürdige Erfahrung. Ich habe mich nicht allein auf meine Erinnerung undden Briefwechsel mit meiner Mutter verlassen, sondern auch die Familie befragt. Weil ich auf spanisch schreibe, konnte die Hälfte der Familie es erst lesen, nachdem Margaret Sayers Peden, Petch, es übersetzt hatte, eine liebenswerte achtzigjährige Dame, die in Missouri lebt und bis auf meinen ersten Roman alle meine Bücher ins Englische übertragen hat. Mit der Geduld einer Archäologin legt Petch die einzelnen Schichten meiner Manuskripte frei, überarbeitet jede Zeile wieder und wieder und ändert, was ich geändert haben möchte. Als der englische Text vorlag, konnte die Familie die einzelnen Versionen vergleichen, die nicht immer mit meiner übereinstimmten. Harleigh, Willies jüngster Sohn, entschied, daß er nicht in dem Buch vorkommen wollte, und ich mußte es umschreiben. Das ist ein Jammer, denn er ist ziemlich pittoresk und aus unserer Sippe eigentlich nicht wegzudenken; ihn auszuschließen kommt mir wie Schummelei vor, aber ich darf mich nicht ohne Erlaubnis eines fremden Lebens bemächtigen. In langen Gesprächen überwanden wir die Angst davor, unsere Gefühle, die guten wie die schlechten, auszudrücken; zuweilen fällt es schwerer, Zuneigung zu zeigen als Ablehnung. Wessen Wahrheit ist richtig? Willie sagt, man gelangt an einen Punkt, an dem man die Wahrheit vergessen und sich auf die Tatsachen konzentrieren muß. Als Erzählerin sage ich, man muß die Tatschen vergessen und sich auf die Wahrheit konzentrieren. Jetzt, fast am Ende des Buchs, kann ich nur hoffen, daß dieser Versuch, die Erinnerungen zu ordnen, für alle nützlich war. Und nachher werden sich die Wogen wieder glätten, der aufgewühlte Schlick wird zurück auf den Grund sinken, und was bleibt, ist Klarheit.
Für Willie und mich ist das Leben angenehmer geworden seit den Zeiten des Therapiemarathons, seit wir nicht mehr zaubern müssen, um unsere Rechungen zu bezahlen, und uns nicht mehr berufen fühlen, diejenigen vor sich selbst zu retten, die nicht gerettet werden wollten. Fürs erste trübtkein Wölkchen den Horizont. Falls kein Unglück geschieht, was nie ausgeschlossen werden kann, steht es uns frei, die Jahre, die uns bleiben, mit der Sonne auf dem Bauch zu genießen.
»Ich glaube, wir sind alt genug, um in Rente zu gehen«, sagte ich eines Abends zu Willie.
»Kommt nicht
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