Das Siegel der Tage
die Prinzessin, die vom Prinzen gerettet wird, sondern immer die Amazone, die den Drachen tötet und so ein Volk rettet. Aber jetzt und hier, sagte ich zu Willie, wollte ich nur meinen Kopf an seine Schulter legen und ihn bitten, mich zu beschützen, wie Männer das doch angeblich mit Frauen tun, wenn sie sie lieben.
»Behüte ich dich denn nicht?« fragte er verdutzt.
»Doch, Willie, du kümmerst dich um alle praktischen Fragen, aber ich meine es romantischer. Ich weiß auch nicht, wie genau. Ich wäre wohl gern die Märchenprinzessin, und du sollst der Prinz sein, der mich rettet. Ich bin es leid, Drachen zu töten.«
»Ich bin seit fast zwanzig Jahren der Prinz, aber du merkst es ja nicht einmal, Prinzeßchen.«
»Als wir uns kennenlernten, haben wir ausgemacht, daß ich allein klarkommen würde.«
»Das haben wir gesagt?«
»Nicht wörtlich, aber das war doch gemeint, als wir sagten, wir wollten Compañeros sein. Die Compañeros klingen für mich heute arg nach Guerrilla. Ich würde gern ausprobieren, wie es sich anfühlt, eine schwache Ehefrau zu sein, mal zur Abwechslung.«
»Ha! Die Blondine aus der Tanzschule hatte recht: Der Mann führt.« Er lachte.
Ich antwortete ihm mit einem Klaps auf die Brust, er schubste mich, und am Ende landeten wir beide unter Wasser. Willie kennt mich besser, als ich mich selbst kenne,und trotzdem liebt er mich. Wir haben einander, es ist ein Fest.
»So was!« prustete er beim Auftauchen. »Ich warte da in meiner Ecke, ungeduldig, wo du bleibst, und du wartest, daß ich komme und dich zum Tanzen auffordere. Und dafür die ganze Therapie?«
»Ohne Therapie hätte ich niemals zugeben können, daß ich mich danach sehne, von dir beschützt und behütet zu werden. Wie kitschig! Stell dir das vor, Willie, das straft ein ganzes feministisches Leben Lügen.«
»Das hat damit nichts zu tun. Wir brauchen mehr Nähe, Stille, Zeit für uns beide. In unserem Leben ist zuviel Streiterei. Komm mit mir an einen Ort der Gelassenheit«, sagte Willie leise und zog mich zu sich heran.
»Ein Ort der Gelassenheit … das gefällt mir.«
Mit der Nase an seinem Hals war ich froh darum, zufällig über die Liebe gestolpert zu sein und daß sie so viele Jahre danach ihren Glanz nicht eingebüßt hatte. Da schwebten wir umschlungen, vom bernsteinfarbenen Licht der Kerzen beschienen, leicht im heißen Wasser, und ich spürte, wie ich mit diesem Mann verschmolz, mit dem ich einen langen und steilen Weg gegangen war, mit dem ich gestolpert und gefallen und wieder aufgestanden war, mich gestritten und mich versöhnt hatte, ohne daß wir einander je verraten hätten. Das Siegel der Tage, Leid und Freuden geteilt zu haben, war längst unser Schicksal.
ENDE (fürs erste)
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