Das Sonnentau-Kind
Gefühlsausbruch am besten mit sachlichen Fragen hinauszögern, vielleicht sogar verhindern konnte. «Warum könnte Aurel sich das Leben genommen haben? Ist Ihnen etwas aufgefallen?»
«Aurel war einer der lebenslustigsten Menschen, den ich kannte. Sein Lachen …» Seine Stimme klang belegt, und Wencke glaubte einen Moment, ihr Ablenkungsmanöver sei fehlgeschlagen, doch dann sprach er weiter: «Wenn er lachte, blitzten seine Zähne nur so. Ein hübscher Kerl. Es ist so schade …»
Ja, das habe ich auch schon gedacht, kam es Wencke in den Sinn.
Helliger sprach weiter. Er schien sich wieder zu fangen. «Dass ein Mensch, der in einem Land wie Rumänien groß geworden ist, trotzdem noch so eine Fröhlichkeit entwickeln kann, ist ein Wunder. Wenn die Kinder mal übellaunig nach Hause gekommen sind, weil sie eine schlechte Note geschrieben haben oder es irgendwelche Probleme gab, da hat Aurel sie in Minutenschnelle wieder aufgemuntert und ihnen gezeigt, dass das Leben zu schön ist, um sich durch schlechte Laune den Tag zu vermiesen.»
«Dann glauben Sie nicht so recht an einen Selbstmord?», fragte Wencke vorsichtig.
Er schaute sie ungläubig an. «Was wäre denn die Alternative?»
«Nun, ein Unfall sicher nicht. Sie haben das Seil ja selbst gesehen, es war geknotet, er hätte nicht aus Versehen hineinfallen können», stellte Wencke fest.
«Mord?», kam es leise über Sebastian Helligers Lippen.
Wencke deutete ein Nicken an.
Es blieb einige Zeit still in der Bibliothek. Auf dem Schreibtisch tickte leise eine Uhr, von draußen hörte man gedämpft die Windspiele aus Metall, noch leiser war ein Weinen aus einem anderen Raum zu vernehmen. Wahrscheinlich das Dienstmädchen, dachte Wencke.
Sebastian Helliger unterbrach die Ruhe durch ein Räuspern, mit dem er seiner Stimme wieder Herr zu werden versuchte. «Nie im Leben Mord!»
Diese Behauptung klang so bestimmt, dass Wencke auf weitere Weshalbs und Warums verzichtete, zumindest vorerst. Stattdessen erkundigte sie sich nach Aurel Pasats Zimmer, nach seinen Papieren und weiteren persönlichen Gegenständen, die im Haus verteilt sein könnten. Helliger trank seine Tasse leer, stand auf und machte wieder diese Geste, die Wencke aus der Bibliothek in einen anderen Teil des Hauses lotsen sollte. Sie folgte bereitwillig.
Fähre Spiekeroog-Neuharlingersiel, Deutschland überfüllt und stickig
Wenn die Kinder nur einen Moment, einen winzigen Moment Ruhe geben würden, dachte Annegret. Thorben kletterte über die mit Kunstleder bezogenen Bänke, Henrike maulte, weil sie eine Geschichte vorgelesen haben wollte. Die Fähre hatte ungefähr die halbe Strecke in Richtung Festland hinter sich gebracht. Man konnte bereits den Deich von Neuharlingersiel sehen, doch wenn man zurückschaute, schien Spiekeroog auch noch nicht allzu weit entfernt zu sein. Ein kleiner Kurzurlaub auf der ruhigen Insel hatte es werden sollen, eine Ewigkeit schien er gedauert zu haben. So lieb sie die Kinder hatte, drei Tage auf engstem Raum waren einfach zu viel. Besonders, wenn man nichts nötiger hatte als Ruhe, als ein paar Momente Ruhe und Zeit, um sich alles durch den Kopf gehen zu lassen, was in den letzten Wochen geschehen war.
Annegrets Finger umschlossen im Verborgenen ihrer Handtasche wieder den Brief. Sie streichelte über das Papier, welches sie seit ihrer Abreise so unzählige Male auseinander- und wieder zusammengefaltet hatte.
«Ich gehe mal kurz nach draußen. Benehmt euch, Kinder, okay?»
Annegret schulterte ihren Lederbeutel, warf Thorben und Henrike einen ernsten Blick zu und ging an den Bankreihen vorbei bis zur Glastür, die zum Oberdeck führte. Das Wetter war schön; welch netter Maibeginn, besonders hier direkt am Meer, wenn man glaubte, in der klaren Luft die Sonne riechen zu können. Ein milder Wind umfasste Annegrets dunkelblonde Locken, die sie mit einer Holzspange zusammengesteckt hatte, eine Strähne löste sich und fiel ihr in das Gesicht. Das Kitzeln der Haare an ihren Lippen irritierte sie, denn sie hatte eben an Küssen gedacht. Im Brief stand, dass er sie küssen wolle. Dass er an nichts anderes denken könne. Und seitdem kribbelten ihre Lippen, und sie wusste nicht, ob es Vorfreude war oder die Ankündigung eines Herpesbläschens, wozu sie in Stresssituationen häufig neigte.
Das, was er ihr geschrieben hatte, war einfach unerhört. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er so weit gehen würde. Und jetzt schwebte sie seit Tagen in einem Zustand, den sie nicht
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