Das Sonnentau-Kind
Wagen mit vollem Tempo gegen einen Brückenpfeiler gefahren hatte. Kerstin und ihre Truppe hatten bei der Spurensicherung in seinem Zimmer allerlei Indizien gefunden, die auf eine wirklich schwere Persönlichkeitsstörung des jungen Mannes hatten schließen lassen. Ein fehlender Vater, eine besitzergreifende Mutter, der Naturbursche hatte es nicht leicht gehabt und wäre vielleicht mit einer milderen Strafe und einer damit einhergehenden Therapie davongekommen. Doch, wie gesagt, er hatte sich für einen anderen Weg entschieden.
Am härtesten traf sein Freitod Annegret Helliger, die erst eine Woche nach dem Vorfall im Museum wieder ansprechbar war, sich aber an nichts erinnern konnte. Hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen, Trauer und Wut auf die Machenschaften ihres Mannes hatte sie einer ausgiebigen Reha-Kur zugestimmt und war für einige Zeit im Odenwald untergebracht.
Sebastian Helliger setzte alles daran, ihr Vertrauen wiederzugewinnen. Bis seine Rolle im Bettelkinderskandal restlos aufgeklärt war, wurde er von der Untersuchungshaft verschont und kümmerte sich um die beiden Kinder. Nebenbei versuchte er vehement, den entstandenen Schaden zu begrenzen. Er kümmerte sich um die Rückführung der kranken Kinder, unter ihnen übrigens auch Teresas Bruder Ladislaus, der eben erst eine schwere Bronchitis durchgemacht zu haben schien und sehr geschwächt war. Helliger tat alles, was er konnte, er organisierte mit Hilfe der Medien deren Einweisung in vernünftige Heime und verhalf zudem Teresa zu einem der renommiertesten Strafverteidiger Rumäniens. Ob und inwiefern sein Engagement ihn vor der zu erwartenden Haftstrafe bewahrte, blieb abzuwarten.
Holländer wurde mit weniger Feingefühl behandelt. Er saß in der JVA Lingen. Schließlich war er es gewesen, der die Kinder zu ihren Betteljobs nach Bremen, Oldenburg, Wilhelmshaven und in die umliegenden Kleinstädte gebracht hatte. Auf Anweisung Helligers zwar, aber er war nicht immer so zimperlich mit den Kindern umgegangen, wie es seinem Chef gefallen hätte.
Nie hatte es heißere Diskussionen in Aurich und Umgebung gegeben, was denn nun Gerechtigkeit und was in diesem Fall richtig und falsch sei. Wäre es den Kindern zu Hause in Rumänien besser ergangen, wenn Helliger nach Entdeckung des Lagers die Polizei alarmiert hätte? War Helliger wirklich schuldig, wenn er das ganze Geld, das die Kinder erbettelt hatten, in ihr Wohlergehen investierte? Sowohl in den Medien wie auch in den Justizbehörden kam man irgendwann zu dem Schluss, dass sich darauf wohl keine Antwort finden ließe.
Von dem organisierten Bettelkinderring, dem Helliger die Kinder damals abgekauft hatte, fehlte noch immer eine konkrete Spur. Indizien führten zu zwei kleineren Kinderlagern in den Niederlanden. Auch hier hatten sich die Menschenhändler abgelegene Provinzen ausgesucht, um ihre «Arbeiter» unterzubringen. Doch es blieb zu befürchten, dass diese Ermittlungserfolge dem bestens funktionierenden und ungemein einträglichen «Betrieb» nicht wirklich etwas anhaben konnten. Wencke zweifelte daran, dass man jemals alle Verantwortlichen zu fassen kriegte.
Das erste Dezernat der Polizei Aurich war derweil schon längst wieder mit anderen Dingen beschäftigt. Neuen Erkenntnissen im Penny -Fall zum Beispiel. Man arbeitete wieder, Tag für Tag, Greven, Britzke, Strohtmann und all die anderen. Und Axel Sanders und sie.
Es hatte keine Aussprache gegeben über die wüsten Beschimpfungen, die sie sich an den Kopf geworfen hatten. Sie waren einfach wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Auch zu Hause. Anivia hatte sich von ihrem Abenteuer erstaunlich schnell erholt und fand es bereits wieder spannender, am Wochenende Discobekanntschaften zu schließen. Emil schien die ganze Verfolgungsjagd nichts ausgemacht zu haben. Die Kollegen hatten ihn verheult, aber friedlich am Rande der A 31 im Sand der Baustelle buddelnd vorgefunden.
Und Axel war nett, freundlich, ab und zu auch gut gelaunt und hin und wieder lustig.
Wencke konnte nicht vergessen, wie er sich um Emil gesorgt, aber im Gegensatz zu ihr einen klaren Kopf bewahrt und somit die Situation gerettet hatte. Nie zuvor war ihr bewusst gewesen, wie wunderbar der Mann war, an dessen Seite sie nun schon so lange arbeitete und lebte. Manchmal war er ein unerträglicher Kotzbrocken, aber vielleicht lag das dann auch einfach nur an den Umständen.
Jetzt musste bald der Pizzadienst kommen, nach langem Überlegen, was sie kochen sollte, hatte sie
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