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Das stumme Lied

Titel: Das stumme Lied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Alles erschien so verdammt vertraut und richtig. Dies war der Ort; Martha wusste es. Doch um East Cliff zu erkunden, würde sie später noch genug Zeit haben, entschied sie und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Weg, den sie eingeschlagen hatte.
      Die Pubs, Fischstände und Souvenirläden zu ihrer Linken wichen Spielhallen und einem Dracula-Museum; denn es war hier in Whitby gewesen, wo der berühmte Graf einst gelandet sein soll. Der Weg führte von der Hafenmauer weg und um eine Reihe offener Hallen herum, in denen die Fische versteigert wurden, bevor man sie in die Verarbeitungsfabriken transportierte. Der heutige Fang schien noch nicht eingebracht worden zu sein, denn es war absolut nichts los. Martha wusste, dass sie immer wieder hierher würde zurückkehren müssen, um den Männern dabei zuzuschauen, wie sie ihre Fische vom Boot in Kühlboxen luden und verkauften. Aber wie alles andere konnte auch das warten. Jetzt, da sie entschlossen war, hatte sie eine Menge Zeit. Sie musste sich auf kleinste Details konzentrieren, das würde helfen, mit der Angst und der Unsicherheit fertig zu werden, die womöglich noch in ihr lauerten.
      Sie blieb an einem Stand stehen und kaufte eine Packung Krabben, die sie im Weitergehen aß. Es wurden auch Wellhornschnecken, Strandschnecken und Herzmuscheln verkauft, doch die rührte Martha niemals an. Ihr war bewusst, dass ihre Mutter der Grund dafür war. Immer wenn ihre Familie an die Küste gefahren war - meistens nach Weston-super-Mare oder Burnham-on-Sea - und Martha sie hatte probieren wollen, hatte ihre Mutter gesagt, dass es vulgär wäre, so etwas zu essen. Und Martha hatte ihr jedes Mal geglaubt. Was könnte vulgärer sein, als einen Zahnstocher in die feuchte Öffnung einer winzigen, muschelartigen Schale zu stecken und ein Wesen so weich und glitschig wie Schleim hervorzuziehen? Doch heutzutage würde ihr das nichts ausmachen. Sie hatte sich verändert. Ihre Mutter wusste es nicht, aber es war eine Tatsache. Heute könnte sie wahrscheinlich sogar einen Hummer auseinander nehmen und das Fleisch herauslutschen. Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es gar nicht so sehr die Sache an sich war, die ihre Mutter für vulgär hielt, sondern ihre Verbindung mit einer bestimmten sozialen Schicht. Nur Mitglieder der Unterklasse trieben sich in Seebädern herum und stocherten mit Zahnstochern in Schneckenhäusern.
      Ein Bingo-Ansager aus einer der Spielhallen unterbrach ihren Gedankengang: »Alle Fünfen, fünfundfünfzig ... Runde elf, Nummer elf.« Die verstärkte Stimme hallte durch die leeren Auktionshallen.
      Martha kam an dem Musikpavillon vorbei und nahm den Khyber Pass hinauf nach West Cliff. Oben angelangt, ging sie unter dem riesigen Kieferknochen des Wales hindurch, der einem Torbogen in eine andere Welt glich. Es war ein warmer Tag, und nachdem sie den steilen Hügel hinaufgeklettert war, begann sie zu schwitzen. Mit einer Hand fuhr sie über den glatten, warmen und von Wind und Wetter dunkel gefärbten Knochen und erschauderte. Wenn dies lediglich der Kiefer gewesen war, wie riesig musste dann erst das ganze Geschöpf gewesen sein: ein wahrer Leviathan. Und als sie unter seinem Schatten weiterging, glaubte sie, sie wäre wie Jona aus seinem Maul gespeit worden. Oder bewegte sie sich in die andere Richtung und betrat gerade den Bauch des Wals?
      Sie konnte die Illustrationen der Bibelgeschichte aus der Sonntagsschule vor sich sehen: Im Inneren hatte der Wal so weiträumig und düster wie eine Kathedrale ausgesehen, seine Rippen hatten das Gewölbe nachgeahmt. Und da saß der arme Jona, ganz allein. Sie stellte sich vor, wie seine Schreie in dieser Weite widergehallt haben mussten. Aber konnte es im Inneren eines Wales wirklich so viel Leere geben? Würde es dort nicht ein Gewirr aus Adern und Röhren und aufgedunsener, pulsierender Organe geben wie im Innern eines Menschen?
      Sie versuchte sich an die Geschichte zu erinnern. Hatte Jona nicht versucht, seinem Schicksal zu entkommen, indem er nach Tarschisch floh, obwohl er eigentlich nach Ninive gehen sollte, um der Stadt wegen ihrer Verderbtheit das Strafgericht anzudrohen? Dann war ein gewaltiger Seesturm aufgekommen und die Seeleute hatten ihn über Bord geworfen. Drei Tage und drei Nächte verbrachte er im Bauch des Wales, bis er um seine Erlösung betete und das Ungeheuer ihn an Land speite. Danach akzeptierte er sein Schicksal und ging nach Ninive. Sie konnte sich

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