Das taube Herz
dort zu einer Treppe zu gelangen, die in den ersten Stock führte. In einem von schweren, dicken Vorhängen verdunkelten Raum saß eine alte Frau auf einem Sessel und wiegte still vor sich hin summend den Kopf. Néandaz tippte ihr kurz auf die Schulter, schwafelte etwas Unverständliches und öffnete dann den Alkoven. Darin standen Gläser und Schatullen auf einem Regal, Bücher lagen auf dem kleinen, jedoch den engen Raum verstellenden Tisch, Steine und Wurzeln, verschiedene undefinierbare Metallteile, Porzellangeschirr und Löffel, Zangen und Stöpsel aller Art. Néandaz zündete mehrere Kerzen an und setzte sich an den Tisch, räumte die Sachen etwas zur Seite und bat Jean-Louis, sich ebenfalls zu setzen. Im flackernden Kerzenlicht sah Jean-Louis nun all die Gläser auf dem Regal, große und kleine, runde und solche mit einem Flaschenhals. Darin waren Lurche, Kröten und Schlangen in Alkohol eingelegt. In einem Glas glaubte er eine menschliche Zunge zu erkennen, wieder in einem anderen einen Finger, dort eine ganze Hand, hier mehrere Augen und ganz unten, leicht verborgen hinter Néandaz’ Rücken, ein großes Gefäß mit einem toten, in Alkohol schwebenden Fötus. Damit nicht genug. Während die Alte unverändert weitersummte und sich in ihrem Schaukelstuhl wiegte, legte der grässliche Händler weitere Abscheulichkeiten auf den Tisch: eine Schachtel voller Haare von zum Tode Verurteilten, eine Ampulle mit Sperma eines Gehenkten, ein Fläschchen Urin desselben, getrocknete Fäzes einer Heiligen, gepökeltes Fleisch eines Geräderten, zwei Flaschen jungfräuliches Menstruationsblut, Knochensplitter eines im 15. Jahrhundert gevierteilten Verbrechers, den getrockneten Penis
von Louis XIII., den Zehennagel eines vor hundertsieben Jahren ermordeten bretonischen Bischofs.
»Das reicht!«, schrie Jean-Louis plötzlich und versuchte, seinen Ekel zu unterdrücken. Néandaz war noch nicht zu Ende mit seinem makabren Angebot. Er sei ja nur Zwischenhändler, erklärte er umständlich und wollte weitere Artikel auftischen. Aber Jean-Louis war vom Tisch aufgestanden und hatte sich angewidert von dem alchemistischen Ramsch abgewendet. Was hier als Talisman Glück bringen oder als Zutat für magische Riten dienen sollte, entsprang dem tiefsten, schwärzesten Mittelalter und rief in ihm die grauenhaftesten, ekligsten Befürchtungen hervor. Mehrere unendlich lange Minuten stand Jean-Louis vor diesem abscheulichen Sammelsurium von Zeugnissen geistiger Gefangenschaft in geschürten Ängsten, düsteren Phantasien und benebelnden Beschwörungen. Nichts war ihm mehr zuwider als diese verräterischen Verstöße gegen alle Vernunft, gegen die Logik, gegen die Wissenschaft und gegen jeglichen menschlichen Verstand. Er hatte nicht gewusst, dass dieser alte alchemistische Sumpf überhaupt noch existierte, dass es noch immer Leute gab, die den uralten Lügengeschichten der Magie verfallen waren wie einer nicht zu kurierenden Krankheit.
»Was wissen Sie über Ana de la Tour?«, schrie er plötzlich. Die alte Frau in ihrem Schaukelstuhl machte keinen Mucks und summte weiter. Néandaz schaute ihn von seinem Auslegetisch aus leicht verwirrt an.
»Was wollen Sie? Die Leute kommen zu mir, weil sie auf der Suche nach einer Antwort oder nach dem Glück sind, oder weil sie an einem Experiment arbeiten. Wenn Sie jemanden suchen, dann sind Sie hier an der falschen
Adresse.« Noch während der makabre Reliquienhändler sprach, unterbrach die alte Frau ihr regelmäßiges Wiegen, hörte auf zu summen und öffnete die Augen. Jean-Louis ging um sie herum.
»Geben Sie sich keine Mühe, sie sieht praktisch nichts mehr.«
Jean-Louis bückte sich zu ihr hinunter und versuchte, ihren Blick aufzufangen, ohne Erfolg. Ihr Blick blieb starr geradeaus gerichtet. Der Tod hatte sich in ihren schwarzen Augen breitgemacht und verströmte nichts als Kälte und Starre. Das harte, faltige Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt, und ohne das Summen und Schaukeln des Stuhls schien jegliches Leben aus diesem Körper gewichen zu sein. Als Jean-Louis sich bereits wieder erheben wollte, bemerkte er, dass die alte Frau leicht ihre Lippen bewegte, so als sagte sie etwas, so als flüsterte sie ihm etwas zu. Er näherte sich ihr, bis sein Ohr beinahe ihre Lippen berührte, und nun hörte er die leisen, gehauchten, jedoch unverständlichen Laute.
»Was sagt sie?«
Néandaz erhob sich und schüttelte den Kopf. »Meine Mutter spricht eine Sprache, die Sie nicht verstehen
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