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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Urs Richle
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Automat Buchstabe um Buchstabe brav und fehlerlos auf das Blatt, mehrmals, mit begleitendem Kopfnicken und verzücktem Augendrehen, so wie er jeden anderen wie von Gottes Hand eingegebenen Text auf Papier bringen würde.
    Mehrere Tage stand der Ecrivain dann im Fenster der Boutique und wartete auf den Kurier des geheimnisvollen Auftraggebers. Die zwei angekündigten Tage waren längst verstrichen, als ob der Auftrag in Vergessenheit geraten wäre. Tag um Tag spürte Jean-Louis den gläsernen Blick des Ecrivain auf sich, fühlte sich von dieser leblosen Puppe beobachtet, spürte seine Präsenz, sein spöttisches Lächeln, den in die starre Haltung verwandelten Hohn. Nach vier Tagen brachte er den Schreibautomaten in die fensterlose Kammer zu seinen Uhrenkreationen und stellte ihn in die Mitte, als müsste er ihn durch die Menge der ihn umringenden Meisterwerke beeindrucken. Aber das spöttische Lächeln über Jean-Louis’ Unfähigkeit, das entscheidende Rad mit dem Text über Ana einzusetzen, wollte nicht
weichen. Wieder und wieder ließ Jean-Louis den Automaten die bestellte, kitschige Liebesbotschaft schreiben, bis das kleine Tintenfass leer gesaugt und die Blätter auf allen Seiten so oft überschrieben waren, dass die ineinandergreifenden Buchstaben fremdländischen Zeichen, geheimen Botschaften, verschlüsselten Nachrichten glichen und die Banalität des Geschriebenen durch die Wiederholung bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. Als ginge es darum, das Rad mit der Information über Ana durch die Wiederholung dieser Ersatzbotschaft zum Schweigen zu bringen, ließ Jean-Louis den Schreibautomaten die bedeutungslosen Wörter auch dann noch ins Leere schreiben, als längst keine Tinte und kein Papier mehr vorhanden waren.
    Er vergaß seine Aufträge, blieb in der fensterlosen Kammer mit seinen Uhrenkreationen und dem kindlichen Schreiber allein, als müsste er ihm bei seiner anstrengenden, absurden Aufgabe Gesellschaft leisten. Diesem kleinen Genie, das jeden erdenklichen Wortlaut schreiben, sich jedoch nicht selbst aufziehen und in Bewegung versetzen konnte, diesem hilflosen Geschöpf, das immer wieder darauf angewiesen war, dass ihm jemand die Zugfeder in die Spannung zurückdrehte, um, je nach Vorlage, die größten philosophischen Gedankensplitter der Menschheit, eine alles entscheidende Information oder den letzten Unsinn aufzuschreiben, war alles, was es auf das Papier brachte, abgrundtief egal. Diese völlige Abhängigkeit von einer übergeordneten Instanz glich tatsächlich dem Ausgeliefertsein eines Kleinkindes, und Jean-Louis fragte sich, ob sein großes Vorbild Pierre Jaquet-Droz mit dem Babygesicht und den wulstigen Kinderbeinen und Armen
des mechanischen Schreibers auf diese Abhängigkeit des Automaten von einer äußeren Instanz anspielen wollte.
    Jean-Louis betrachtete diesen Ecrivain und sah ein Wesen, ein Monstrum, das durch die Hebelkraft der stumpfsinnigen Wiederholung jeglichen Funken Phantasie, jeden noch so kleinen Ansatz einer neuen Kreation im Keim erstickte. Je länger er den Automaten ins Leere schreiben ließ, umso erschöpfter und ohnmächtiger wurde Jean-Louis selbst. Vier Tage und vier Nächte verbrachte er in der Kammer, zog den mechanischen Schreiber pausenlos auf, ließ das eingesetzte Programm sich wieder und wieder abspulen wie den Lauf eines Uhrwerks, als ginge es darum, die Schreibbewegung so lange wie möglich am Leben zu erhalten, um dem Tod zu entgehen.
    Am Morgen des fünften Tages holte er, von der stoischen Ruhe des Schreibautomaten zermürbt, erschöpft und wütend zugleich das unbeschriftete Buchstabenrad mit dem Text über Ana vom Ladentisch. Mit wenigen Handgriffen hatte er es ins Rückgrat der Knabenpuppe einmontiert und drehte am Aufzug. Der neckische Schreiber setzte die Feder sofort auf das Papier und zog Linien. »Néandaz, Paris - Alkahest« schrieb die künstliche Hand in eleganten Bogen. Jean-Louis riss der erstarrten Puppe das Blatt weg und las die Wörtern eins ums andere Mal, in verschiedener Zusammensetzung, zerriss sie in Silben und Buchstaben, um diese zu neuen Wörtern zusammenzusetzen, ohne Erfolg. Außer einem Namen, einem Ort und der Bezeichnung eines Wunderwassers der Alchemisten, wie er schnell herausgefunden hatte, war aus den drei Wörtern nichts zu erfahren.

3
    Néandaz hieß ein kleiner, rundlicher, ungewaschener Buchhändler in einem finsteren Hinterhof in Paris. Jean-Louis hatte drei Wochen gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Über der Tür

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