Das taube Herz
Gehilfen aus dem Schloss in den Park und zum Unterstand hinübergeführt worden war, war ihm klar geworden, dass jemand seinen Plan durchkreuzt hatte. Irgendjemand war ihm in Versailles zuvorgekommen und hatte Ana entführt.
»Was wissen Sie über sie?«, fragt er den Alten, als er sich wieder etwas gefasst hatte.
»Tut mir leid, Monsieur Sovary«, antwortete der alte Mann ruhig, »ich selbst weiß nichts. Aber mein Auftraggeber lässt Ihnen das überreichen.«
Er legte ein Rad mit verschieden langen Metallzähnen auf den Ladentisch.
»Wenn Sie dieses Zahnrad dem Schreiber einsetzen, dann wird er Ihnen eine Information über Ana aufschreiben. Aber dazu müssen Sie den Automaten erst reparieren.«
2
Jean-Louis öffnete den Rücken des Ecrivain und untersuchte die Wellen, Stifte und Räder, tastete imaginär den Verlauf der Hebelkraft vom Federhaus über die Drehscheibe der voreingestellten Buchstaben zum rechten Arm ab, lüftete auch den Mechanismus der Kopf- und Augenbewegungen, nahm dem Knaben mit dem Babygesicht die Perücke ab und entfernte das leicht verstaubte Puppenkleid. Das eiserne Skelett dieses Schreibers war von bemerkenswerter Kompliziertheit. Im Vergleich zur Konstruktion der Grande Dame jedoch, für die Jean-Louis sein umfangreiches mechanisches Wissen und sein ganzes imaginäres Vermögen aufgewandt hatte, war die einfache Umsetzung einer Zahnhöhe in die horizontale Bewegung einer Tintenfeder, ähnlich der Walze eines Musikautomaten, eine simple Konstellation, auch wenn der Mechanismus selbst mit einem fein ziselierten, ausgeklügeltem System gebaut war. Das Rückgrat des Schreibers bildete eine zur Säule aufgeschichtete Ansammlung von unregelmäßigen Metallplättchen, welche die einzelnen Buchstaben des Alphabets durch die Drehung der gesamten Säule in Wellenbewegungen eines Abtastarms umsetzten. Diese wiederum wurden in die Bewegung der Feder auf dem Papier übersetzt. In wenigen Handgriffen hatte Jean-Louis das mechanische Gelenk lokalisiert, das ins Leere lief und das Zusammenspiel
aller weiteren Räder und Verkupplungen blockierte. Die Reparatur, das stellte er schnell fest, würde nicht mehr als zwei oder drei Stunden beanspruchen, und er wollte seinen Kunden nicht unnötig warten lassen. Aber der alte Mann hatte sich bereits mit höflicher Geste verabschiedet und wollte erst in zwei Tagen wiederkommen.
Noch am selben Nachmittag schrieb der automatische Schreiber mit seiner Babyhand die ersten noch von Pierre Jaquet-Droz selbst erstellten Wörter auf das kleine Papier auf dem Tischchen, nickte und verdrehte die Augen, so wie er bei seinen Aufführungen das begeisterte Publikum zu verblüffen pflegte. Jean-Louis war weder verblüfft noch begeistert. Mit einigen wenigen, einfachen Handgriffen hätte er diesen willenlosen, aufziehbaren Automaten etwas über Ana schreiben lassen können. Das Rad mit den verschieden langen Zähnen, dieses metallene Wolfsgebiss enthielt das Wissen um das Schicksal von Ana und damit das Wissen um sein eigenes Leben, welches Jean-Louis sich hier in diesem kleinen, finsteren Atelier in der Rue des Etuves in Genf so erträglich wie möglich zu gestalten versuchte. Als sollte er ein neues Rad in das Getriebe seiner Geschichte, seines Lebens einsetzen und damit dem ganzen Aufbau und weiteren Ablauf seines Schicksals eine neue Richtung geben, saß er wie versteinert vor dem noch immer auf dem Ladentisch liegenden Rad.
Auch nach zwei Tagen hatte er es noch nicht angerührt, als handelte es sich um eine Krankheit, einen Bazillus, den er selbst in sein eigenes Schicksal einbauen sollte. So wie er von manchen Uhrwerken wusste, dass bestimmte Mechanismen oder Einzelteile sich im gesamten Aufbau des Räderwerks nicht einfügten, so ahnte er, dass dieses wissende
Rad auf dem Ladentisch den mechanischen Allesschreiber nicht nur in einen Erlösung bringenden Boten, sondern ebenso gut in einen gefährlichen Gegner verwandeln konnte. Aus Vorsicht oder aber aus Respekt vor diesem Dilemma waren die Zähne des Rades nicht mit den Buchstaben beschriftet, wie das beim bereits eingesetzten Rad der Fall war. Es wäre nicht schwer gewesen, die Botschaft mittels des bereits eingesetzten und beschrifteten Rades zu entziffern, aber Jean-Louis unterließ auch dies. Wie vom alten Mann beauftragt, kreierte er stattdessen ein drittes Rad, welches den Alphabetenhampelmann den vom Auftraggeber bestellten Wortlaut schreiben ließ. »Dir, liebste Juliette, schenk ich mein Herz«, kritzelte der
Weitere Kostenlose Bücher