Das taube Herz
diese Händler des Wahnsinns ihn suchten, dass sie die Spuren verfolgten und nicht aufhören würden, bis sie auf ihn stießen. Und nun waren sie da, nicht weit von ihm und von seiner Geschichte. Jean-Louis war bereit. Er hatte nichts mehr zu verbergen und nichts zu verlieren. Nach all den Tagen und Wochen der Kasteiung und der Aufopferung für sein Werk war er nicht mehr von dieser Welt, und die Welt war nicht mehr bei ihm. Die Spieluhr, im Gegensatz zur erbärmlichen Erscheinung, die inzwischen von ihm selbst noch übrig geblieben war, würde weder die mystischen Pfuscher noch die Mörder, noch irgendjemand sonst auf dieser Welt enttäuschen. Mit dieser über alles erhabenen Gewissheit, die sich in den späteren Jahren mehrmals bestätigen sollte, öffnete Jean-Louis die Kammertür und ließ sich von vier in schwere, schwarze Röcke gekleideten und vermummten Männern widerstandslos überwältigen, knebeln und abführen.
EPILOG
Albert Géraux hatte fertig erzählt. Seine rot unterlaufenen Augen blickten in die Leere, und sein trockener Mund war geschlossen. Obwohl der Polizeibeamte noch immer geduldig vor ihm saß und Notizen machte, hatte der Stiftungsverwalter die Grande Dame und mit ihr, da ohne die Spieluhr nichts mehr einen Sinn ergab, das Museum Géraux-Sovary in der Villa Madeleine innerlich bereits aufgegeben und dessen Schließung und damit die Auslöschung der über Jahre mühsam erarbeiteten öffentlichen Erinnerung an den größten Uhrmacher der Schweizer Uhrengeschichte fest beschlossen. Denn kein Grabstein, kein Kreuz, noch irgendein anderes Dokument außer den signierten Uhrwerken zeugte von Jean-Louis Sovarys Leben. Wahrscheinlich war er von den insgeheim satanischen Riten huldigenden Glaubensbrüdern des Hermetischen Ordens der Universalen Bauherren gefoltert und hingerichtet worden. Aber vielleicht hatte er, wenn man anderen Legenden Glauben schenken will, die Herberge, wo er seine letzte Spieluhr gebaut hatte, eines Tages nach vollendeter Arbeit ganz einfach aus eigenen Stücken und völlig unbemerkt verlassen, um allein und vergessen am Ufer des Doubs in der Natur aufzugehen wie eine welke, den Pflichten ihrer Bestimmung nachgekommene Pflanze. Das war auch Albert Géraux’ persönliche Überzeugung,
aber beweisen konnte er sie nicht. Denn Jean-Louis Sovary war ohne Würdigung aus dieser Welt geschieden, und sein Œuvre wurde nach seinem Tod in viele Einzelstücke zerrissen und über die ganze Welt verstreut.
Die Boutique in der Rue des Etuves in Genf war wegen unbezahlter Miete und wiederholtem Nichtbeantworten von Korrespondenzen durch eine amtliche Verfügung aufgelöst und öffentlich versteigert worden. Unzählige Pendel- und Taschenuhren, Schmuck- und Standuhren und verschiedene kleinere und größere Automaten und Figurenspiele, die alle am Federhaus die Signatur JLS trugen, wurden nach Rom, Barcelona, nach Prag, Paris und gar nach Moskau verkauft. Einzelne Hemmungen, Federhäuser und Zahnräder, Federn und Stifte aller Arten und Größen, alte und neue Werkzeuge wurden an die Genfer Cabinotiers, Uhrmacher und Bijoutiers verschleudert. Der Erlös dieser Zwangsverkäufe ging an eine gemeinnützige Stiftung für Waisenkinder.
Jean-Louis’ Hefte und Notizen, die er in seinen Lehrjahren im Atelier des Maître Falquet in Ferney geführt hatte, tauchten viele Jahre später zusammen mit einer von Wolfgang von Kempelen gezeichneten, handschriftlichen technischen Abhandlung zur Konstruktion von Sprechautomaten in einem Antiquariat in Wien wieder auf und erlangten beim Verkauf an das Musée Géraux-Sovary in La Chaux-de-Fonds einen stattlichen Preis.
Das Geburtstagsgeschenk aus der Werkstatt Jaquet-Droz, die Werkzeuge, mit denen Jean-Louis die Grande Dame baute, wurden erst von einer Putzfrau, dann von deren Liebhaber, einem Kutscher aus Saint-Ursanne, zweckentfremdet, bevor die Feilen und Zangen, Pinzetten
und Schraubendreher in einem feuchten Schopf über viele Jahre hinweg verrosteten.
Es war die gigantische Sisyphusarbeit von Albert Géraux’ Vater gewesen, all diese Gegenstände und Werke ausfindig zu machen und wieder zu versammeln.
Über das Schicksal der Grande Dame selbst wusste auch Albert Géraux der Jüngere nur wenig. Erst mehr als hundert Jahre später tauchte die Spieluhr auf einem Dachboden in Sevilla wieder auf, in einem Haus, das, wie sich später herausstellen sollte, einmal im Besitz eines spanischen Impresarios gewesen war, welcher Pierre Jaquet-Droz die drei
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